Sülzeunruhen in Hamburg

1919 war ein von Unruhen, Hunger und Armut geprägtes Jahr für Hamburg und seine Bewohner – Hartmut Höhne entführt den Leser mit seinem Kriminalroman „Mord im Gängeviertel“ in die Hansestadt und lässt die damalige Zeit nach dem ersten Weltkrieg auf spannende Weise wieder lebendig werden.

„Wovon leben? Es mangelte an allem, an Nahrung, an Heizmaterial, an Kleidung und an Schuhen. Auf dem Schwarzmarkt bekam man das meiste. Nur, was hätten die armen Schlucker tauschen sollen?“

(S.22)

Jakob Mortensen ist Kommissar bei der Hamburger Polizei und als er zu einem Leichenfund ins Gängeviertel gerufen wird und sich das Opfer als ermordeter, ehemaliger Polizeispitzel entpuppt wird schnell klar, dass die Ermittlungen schwierig und unangenehm werden. Der Ermordete war ein kaisertreuer, unbequemer und unbeliebter Zeitgenosse, potenzielle Zeugen schweigen sich gründlich aus und da die Gefahr besteht, dass nach wie vor alte Seilschaften in Polizeikreise bestehen könnten, wird die Suche nach der Wahrheit zu einem Ritt auf der Rasierklinge, die Mortensen selbst in höchste Gefahr bringt.

„Man kann sich sein Paradies nicht aussuchen“, kommentierte Jakob trocken.

(S.161)

Zudem herrscht in der Stadt ohnehin Aufruhr und Chaos, die Menschen hungern, versorgen sich auf dem Schwarzmarkt – Razzien sind an der Tagesordnung und so mancher kann sich nur noch mit illegalen Mitteln über Wasser halten.

„Die alte Gesellschaft sitzt tief in uns, und die neue Zeit ist noch nicht bei uns allen angekommen, dafür ist die Not zu groß. Jeder muss selbst sehen, wie er sich und seine Familie irgendwie durchbringt, da kann man mal auf dumme Gedanken kommen.“

(S.172/173)

Auch politisch ist die Lage aufgeheizt und als öffentlich wird, dass die Not der Menschen ausgenutzt und im großen Stil „Gammelfleisch“ zu Sülze verarbeitet und an die Bevölkerung verkauft wurde, bricht der Zorn sich Bahn und es kommt zum Aufstand. Die Sicherheit der Bürger ist nicht mehr gewährleistet, militärische Machtverhältnisse sind im Umbruch und die Situation ist unübersichtlich.

Der historische Hintergrund und das wahre Ereignis der Sülzeunruhen 1919 in Hamburg war mir vor der Lektüre noch kein Begriff. Um so interessanter, wenn die Krimilektüre nicht nur spannend und unterhaltsam, sondern auch noch lehrreich ist.

Der Lebensmittelskandal und die dadurch ausgelösten Unruhen forderten damals 80 Todesopfer. Höhne verpackt den realen Hintergrund geschickt und der Leser wird Zeuge, wie sich die Lage in der Stadt immer mehr zuspitzt und schließlich eskaliert.

Mir gefallen die Milieuschilderungen Höhne’s und der Hamburger Lokalkolorit der damaligen Zeit. Man erfährt viel über die Stadt und ihre Geschichte, lernt mit Jakob Mortensen einen neuen, sympathischen und gewieften Kommissar mitsamt seiner Familie kennen und folgt ihm gerne durch die Wirren und den Tumult. Der Polizist muss während der Ermittlungen ordentlich einstecken und auch ein traumatisches Erlebnis aus seiner Kindheit kommt wieder an die Oberfläche.

Der größte Teil des Hamburger Gängeviertels wurde über die Jahrzehnte inzwischen abgerissen, nur noch vereinzelte Häuser sind wohl erhalten geblieben – mal sehen, ob ich irgendwann bei einem zukünftigen Hamburgbesuch noch etwas des besonderen Charmes dieser Fachwerkhäuser entdecken kann.

Die Atmosphäre, die Enge, die Armut und die Not der Menschen, die dort unter prekären Zuständen nach dem Krieg hausen, hat Höhne stimmungsmäßig sehr gut eingefangen. Er thematisiert die Schicksale und Traumata der Kriegsheimkehrer und auch die chaotischen Verhältnisse während der Sülzeunruhen, die auch neue Ordnungsmächte auf den Plan rufen – kurz zuvor war in Bayern die bayerische Räterepublik blutig niedergeschlagen worden.

Ein flüssig-schnittiger Krimi für Hamburgliebhaber und Fans von historischen Stoffen, der sich herrlich flott und unterhaltsam einfach so weglesen lässt. Es ist kurzweilig, mit Kommissar Mortensen, der dänische Wurzeln hat, ein begeisterter Schwimmer ist und trotz allem Trubel auch noch Zeit hat, sich zu verlieben, durch das aufgewühlte Hamburg zu stromern. Mit ihm hat Höhne eine sympathische Figur erschaffen, die man gerne begleitet. Es bleibt abzuwarten, ob wir noch mehr von Jakob Mortensen zu lesen bekommen – das Potenzial für weitere Fälle in spannenden Zeiten und in der schönen Hansestadt wäre ohne Zweifel vorhanden.
Für eine Fortsetzung könnten die letzten beiden Sätze sprechen:

„Da kam einiges auf die Bewohner dieser Stadt zu. Noch war kein Frieden in Sicht.“

(S.313)

Fazit: Paradiesisch geht es nicht zu im Hamburger Paradieshof und wer gerne Sülze isst, sollte sich vor der Lektüre vorsichtshalber auf einiges gefasst machen, bekommt aber trotz allem auf jeden Fall einen lesenswerten und geschichtlich interessanten Krimi serviert.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Gmeiner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Hartmut Höhne,Mord im Gängeviertel
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-0175-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Mord im Gängeviertel“:

Für den Gaumen (I):
1919 herrschte großer Hunger, so wurde nicht nur Sülze „gepanscht“, sondern auch sonst war der Speiseplan der Hamburger sehr karg und einseitig:

„Die ganze Stadt roch nach Kohlsuppe. Erst wenn es nicht mehr nach Kohl roch, war der Krieg vorbei, kam Jakob in den Sinn.“

(S.32)

Die Sorgen wurden – falls möglich – gerne mit einem dänischen Aquavit hinuntergespült.

Für den Gaumen (II):
Ein seltenes Festmahl bei einem Restaurantbesuch aus besonderem Anlass, sieht dann für Jakob Mortensen wie folgt aus:

Falscher Hase mit Kartoffeln und Buttergemüse.“

(S.232)

In Bayern spricht man von einem Hackbraten, in Österreich ist der falsche Hase als faschierter Braten bekannt. Bei Günter von „Ein Nudelsieb bloggt“ findet sich ein schönes Rezept für einen faschierten Braten – allerdings zeitgemäß und moderner angehaucht mit Kichererbsen-Tomatensauce.

Zum Weiterlesen:
Als Jakob Mortensen auf einem Markt die Gesamtausgabe von Theodor Storm’s Werken entdeckt, plündert er seine Geldbörse, erwirbt diese für elf Mark und gibt seinen Schatz nicht mehr aus den Händen. Das Gesamtwerk Theodor Storm’s (1817 – 1888) werde ich mir wohl nicht vornehmen, aber in seine Gedichte wollte ich schon länger wieder mal reinlesen.

Es ist ein Flüstern

Es ist ein Flüstern in der Nacht,
Es hat mich ganz um den Schlaf gebracht;
Ich fühl’s, es will sich was verkünden
Und kann den Weg nicht zu mir finden.

Sind’s Liebesworte, vertrauet dem Wind,
Die unterwegs verwehet sind?
Oder ist’s Unheil aus künftigen Tagen,
Das emsig drängt sich anzusagen?

(Theodor Storm)

Theodor Storm, Gedichte
Insel Taschenbuch
ISBN: 978-3-458-32431-7

13 Kommentare zu „Sülzeunruhen in Hamburg

  1. Danke für den Tipp, das kommt auf meine Liste, ich mag historische Hamburgkrimis, hatte mich aber dran übergelesen. Das Gängeviertel existiert in Teilen noch, ist zwar in Gentrifizierungsnöten, aber immer noch sehenswert.
    Storm: Solltest du ihn nicht kennen, musst du eigentlich unbedingt den „Schimmelreiter“ lesen, gibt es sogar online, ich glaube bei zeno.org. Ist nicht sooo lang.
    Nachmittagskaffeegrüße 🌤️🌼☕🍪🦋👍

    Gefällt 1 Person

    1. Danke, Christiane! Das freut mich, wenn ich da Deine Leselust wecken konnte.
      Es ist schon viele Jahre her, dass ich das letzte Mal Storm gelesen habe.
      Und ja, ich brauche beim Lesen auch immer Abwechslung, aber das Angebot ist ja Gott sei Dank so vielfältig, dass man Genres, Schauplätze und Zeiträume nach Belieben wechseln kann. Das ist ja das Schöne am Lesen: heute bin ich in Hamburg 1919, morgen im Sardinien der Jetztzeit und dann wieder im New York der Fünfziger…
      Ganz herzliche Nachmittagskaffeegrüße zurück ins schöne Hamburg (beim nächsten Besuch steht das Gängeviertel unbedingt auf meinem Plan)! 🌼☕🍪

      Gefällt 2 Personen

  2. Danke Barbara,
    bin ja nicht so der Krimi-Leser, die Historie ist natürlich interessant. Gerne lasse ich mich animieren, Gedichte zu blättern. Hier also Theodor Storm zum

    „April

    Das ist die Drossel, die da schlägt,
    Der Frühling, der mein Herz bewegt;
    Ich fühle, die sich hold bezeigen,
    Die Geister aus der Erde steigen,
    Das Leben fließet wie ein Traum –
    Mir ist wie Blume, Blatt und Baum.“

    Schönen Sonntag
    und herzlich Bernd

    Gefällt 1 Person

    1. Gern geschehen, Bernd. Wunderbar, wenn Krimilektüre direkt oder in diesem Fall indirekt zum Gedichteblättern anregt. Danke für dieses schöne April-Gedicht von Theodor Storm. Ich wünsche Dir einen inspirierenden und „traumhaften“ Sonntag, vielleicht auch mit „Blume, Blatt und Baum“ bei einem schönen Spaziergang. Herzliche Grüße! Barbara

      Gefällt 1 Person

    1. Liebe Nicole, ja wenn man Sülze liiiieeeebt, dann braucht man schon einen sehr starken Magen und gute Abwehrkräfte, um da nicht den Appetit zu verlieren. 😉 Nachdem Sülze jedoch nicht meins ist, ist bei mir da kein Schaden entstanden. Viel Freude mit und gutes Ankommen in der neuen Wohnung! Schöne Sonntagsgrüße nach Düsseldorf! Barbara

      Gefällt 1 Person

    1. Danke, Anna. Für mich war es definitiv lehrreich, weil der Themenkomplex um die Sülzeunruhen in Hamburg für mich vollkommen neu war. Vielleicht sehen das Hamburg-Kenner anders, das kann ich nicht beurteilen. Der Krimi lebt für meinen Geschmack vor allem vom zeitlichen Kontext und den historischen Hintergründen. Ich habe mich auf jeden Fall gut unterhalten gefühlt und die literarische Auszeit im Hamburg 1919 war eine willkommenen Abwechslung. Dir auch einen schönen, entspannten Sonntag und herzliche Grüße! Barbara

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  3. Liebe Barbara,
    vielen herzlichen Dank für diese großartige Rezension meines aktuellen Buches, über die ich mich sehr freue. Es tut so gut. Alles sehr fundiert, professionell und mit wesentlichen Zitaten hinterlegt. Der Folgeband mit Jakob Mortensen und seinen Leuten ist bereits in Arbeit. Dir viel Spaß und Erfolg mit Deinem schönen und wichtigen Blog.
    Alles Liebe, Hartmut

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Hartmut,
      das ist ja schön, dass Du direkt hier auf meinem Blog kommentierst. Es freut mich sehr, direktes und so positives Feedback vom Autor selbst zu bekommen und vor allem freut es mich auch, wenn ich aus Deiner Sicht eine fundierte Rezension verfasst habe. Vielen herzlichen Dank!
      Ich bin gespannt, wie es mit Jakob Mortensen weitergeht und werde gerne auch im zweiten Teil wieder in die Hamburger Stadtgeschichte abtauchen. Herzliche Grüße und alles Gute für dieses Buch und alles, was noch folgen wird! Barbara

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