Es ist die Zeit der letzten lebenden Zeitzeugen des Holocaust. Es beginnt die Aufgabe der Nachgeborenen, die Erinnerungsarbeit zu übernehmen und die Geschichten gegen das Vergessen weiterzutragen. Der französische Autor Joachim Schnerf hat sich in seinem Roman „Das Cabaret der Erinnerungen“ mit dieser Aufgabe und Verantwortung befasst und berichtet aus der Sicht eines Vaters, der den festen Willen hat, seinem Kind, das gerade auf die Welt gekommen ist, die Erinnerung an die Shoah in Form von Geschichten und Erzählungen weiter zu geben.
Vor allem auch das Gedenken an seine Großtante Rosa, die im fernen Texas ihre ganz eigene künstlerische Ausdrucksform gefunden hatte, das Unaussprechliche zu erzählen.
„Die Bilder und Empfindungen kommen wieder hoch, wenn ich am wenigsten damit rechne, ich flüchte mich in sie, so wie man Geborgenheit in der Nostalgie sucht, und lasse mich in eine Traumwelt gleiten.“
(S.13)
Am Abend, bevor er seinen neugeborenen Sohn und die Gattin aus dem Krankenhaus nach Hause holen kann, beginnt sich das Erinnerungskarussell des jungen Mannes zu drehen. Er taucht ab in Episoden seiner Kindheit, die Abenteuer beim Zelten mit der Schwester und dem Cousin in den Vogesen, ihre fantasievollen Ausflüge und Gedankenspiele an langen, sonnigen Ferientagen und er denkt zurück an Großtante Rosa – die legendenumrankte Schwester des Großvaters, welche den Holocaust überlebte und in die USA emigrierte.
„Rosa wollte nicht schreiben, sie wollte nicht filmen, Rosa wollte eine Frau der Bühne sein, die Bretter sollten ihr Denkmal werden. (…) Abend für Abend gibt sie vergnügt eine Anekdote nach der anderen zum Besten, wie Linien, auf denen die Tragödie ihre Noten platziert.“
(S.30)
Denn Rosa war eine eindrucksvolle Frau, die in Texas ihr eigenes Cabaret eröffnete und über viele Jahre hinweg jeden Abend im wahrsten Sinne des Wortes die Vorstellung ihres Lebens gab.
Auf der Bühne fand sie ihre eigene Art, Erinnerungsarbeit zu leisten und auch mit Schuldgefühlen gegenüber Familienmitgliedern oder Freundinnen und Freunden umzugehen, welche den Holocaust nicht überlebt hatten. Das Cabaret als geschützter, künstlerischer Raum und ihr ganz persönlicher Weg, Heilung und Versöhnung zu suchen und zugleich die Mitmenschen bzw. das Publikum für das schwierige Thema zu sensibilisieren, Wahrheiten auszusprechen und Geschichten zu erzählen, die niemand mehr vergessen kann.
„Wir mussten Mittel finden, anders zu erzählen, die dritte Generation sollte in der Lage sein, sich über das von den Eltern auferlegte Schweigen hinwegzusetzen, und nach der angemessensten Form zu suchen, um das Unaussprechliche auszusprechen. Die Shoah zu singen, zu tanzen, zu mimen, sie fiktiv zu verarbeiten, über sie zu lachen.“
(S.38)
Der junge Vater möchte ebenfalls eine gute Form finden, um seinem Kind von den Ahnen und ihrem Schicksal zu erzählen, den Samen für einen bewussten Umgang mit der Geschichte einzupflanzen und zum Aufblühen zu bringen.
„Ich möchte meinem Kind von allem berichten, von seinem Urgroßvater und seiner Urgroßtante, von den sechs Millionen Seelen, die jede Nacht beteten, dass es am nächsten Tag wieder hell werden und der Albtraum verfliegen möge.“
(S.32)
Man spürt das dringliche Bedürfnis des frisch gebackenen Vaters im Roman, die Erinnerungen zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben, die nicht mehr die Möglichkeit haben wird, mit Zeitzeugen sprechen zu können, welche die Gräuel unmittelbar selbst erlebt hatten.
Aber er möchte auch die Chance nutzen, seine eigene Geschichte – zum Beispiel das Kennenlernen seiner Frau und Mutter seines Sohnes – sowie den außergewöhnliche Lebensweg Rosas mit ihrem „Cabaret der Erinnerungen“ in Shtetl City für immer festhalten.
Es ist berührend zu lesen, wie er seine kindliche Angst vor den Sternen beschreibt, die darauf gründete, dass die Toten in den Himmel auffuhren oder auf der Erkenntnis fußte, dass diese Sterne genauso auch über Auschwitz sichtbar waren.
All das möchte er seinem kleinen Sohn ins Ohr flüstern, ihm einen reichen Schatz an Herzensbildung, Erinnerungen und Geschichten mit auf seinen Lebensweg geben.
Was er sich für die eigene kleine Familie vornimmt, sollte auch im Großen Anwendung finden: Doch so lange so begabte und engagierte Autorinnen und Autoren der dritten Generation wie Judith Fanto (ihren großartigen Roman „Viktor“ habe ich vor einiger Zeit ebenfalls hier auf dem Blog vorgestellt) und Joachim Schnerf den Staffelstab übernehmen, auf ihre neue Art Geschichten erzählen und die Erinnerung wach halten, besteht die berechtigte Hoffnung, dass das so wichtige „Nie wieder“ in der Literatur und Kunst auch weiterhin die nötige Stimme bekommt.
Schnerf hat ein schwebendes, poetisches Buch verfasst, das sich flüssig und schnell liest und gleich einer gelungenen Cabaret-Vorstellung wie im Flug zu Ende ist und doch mit seiner wichtigen Botschaft bleibende Spuren hinterlässt. Er ermöglicht der Leserschaft, für einen Moment innezuhalten, sich auf knapp 125 Seiten gleich einer kunstvollen, literarischen Meditation die Zeit zu nehmen, sich den Geschichten der Zeitzeugen zu stellen und bewusst dem Vergessen Einhalt zu gebieten. Ein subtiler, künstlerischer Appell an nachfolgende Generationen, die Verantwortung für die Erinnerungsarbeit auf zeitgemäße, geeignete und angemessene Art und Weise zu übernehmen.
Eine weitere Besprechung gibt es bei Bücheratlas.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Antje Kunstmann, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Joachim Schnerf, Das Cabaret der Erinnerungen
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-534-6
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Joachim Schnerfs „Das Cabaret der Erinnerungen“:
Für den Gaumen:
Ein jüdisches Gericht, das im Buch zwar nicht auf große Begeisterung stößt, aber allgemein u.a. am Sabbat gerne als kalte Vorspeise gegessen wird, ist „Gefilte Fish“ (S.105).
Ein Rezept gibt es zum Beispiel auf Gabis Website „USA kulinarisch“.
Zum Weiterlesen (I):
Schnerf zitiert in seinem Roman ein weiteres bekanntes Buch, das sich mit den Auswirkungen des Holocausts auch auf nachfolgende Generationen beschäftigt: Imre Kertész’ „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ aus dem Jahr 1990, das der dritte Teil einer Tetralogie des ungarisch-jüdischen Nobelpreisträgers und Holocaust-Überlebenden ist und das ich bisher noch nicht gelesen habe:
Imre Kertész, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind
Übersetzt von: György Buda und Kristin Schwamm
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-225741-1
Zum Weiterlesen (II):
Für alle die noch mehr von Joachim Schnerf entdecken wollen, gibt es auch seinen zweiten Roman „Wir waren eine gute Erfindung“, der in Frankreich mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, in deutscher Übersetzung von Nicola Denis – ich habe mir den Titel auf jeden Fall mal auf meiner Merkliste notiert.
In diesem Buch muss der Witwer Salomon nach dem Tod seiner Frau die erste Familienfeier ohne sie ausrichten – eine Herausforderung.
Joachim Schnerf, Wir waren eine gute Erfindung
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-315-1
Ein Kommentar zu „Die Vorstellung ihres Lebens“