Mailänder Kammerspiel

Bisher habe ich noch einen großen Bogen um Corona-Romane geschlagen, doch bei Tim Parks bin ich bereit, die erste Ausnahme zu machen und mich ihm anzuvertrauen. Schon allein der Titel seines neuen Romans „Hotel Milano“ weckt mein Interesse – sowohl aufgrund des Schauplatzes Italien als auch wegen der speziellen Atmosphäre eines Luxushotels. Und so lasse ich mich ein auf diese literarische Reise in die Lombardei im März 2020, die damals das traurige europäische Zentrum der Pandemie war.

Kunst und Literatur werden immer auch als Spiegel der Zeit bezeichnet und so ist klar, dass KünstlerInnen und AutorInnen jetzt auch verstärkt mit ihren Werken in Erscheinung treten, in welchen sie selbst ihre Erfahrungen während der Zeit der Pandemie verarbeiten.

Der in Manchester geborene Autor und Journalist Tim Parks, der auch für seine Sachbücher (u.a. „Der Weg des Helden“, „Das Geld der Medici“ oder „Italien in vollen Zügen“) bekannt ist und seit 1981 in Italien lebt, hat sich dieses Mal wieder für die Form des Romans entschieden.

Ob ihm das vielleicht – trotz so mancher Parallelen zur Realität – bewusst auch mehr künstlerische Freiheit und etwas mehr Distanz zum noch frischen Geschehen einräumte, kann ich nur spekulieren.

Frank, 75 Jahre alt, ein Londoner Journalist wird zu einer Beerdigung In Mailand eingeladen. Ein langjähriger Kollege und Weggefährte ist verstorben – pikanterweise zudem der Mann, mit dem Franks Ex-Frau vor vielen Jahren eine Affäre hatte. Insgeheim hofft Frank, Connie dort zu treffen und packt seine Sachen.
Gegen den Willen seines Sohnes, der ihm aufgrund der besorgniserregenden Nachrichten aus Italien dringend von der Reise abrät, macht er sich auf den Weg.

„Wohin fliegst du noch mal?
Mailand.
Dad, dir ist schon klar, dass Mailand das Zentrum der Epidemie ist.
Ben, ich konsumiere keine Nachrichten. Das weißt du.
Dad, das pfeifen die Spatzen von den Dächern.
(…)
Du bist sechsundsiebzig, Dad, genau das Alter, in dem das Virus zuschlägt.
Fünfundsiebzig.
Flieg nicht.“

(S.14)

Am 7. März 2020 fliegt Frank mit einem Reisepass, der am 20. März auslaufen wird, nach Mailand, gönnt sich ein Hotelzimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel und besucht die Trauerfeier, um Abschied von seinem ehemaligen Freund zu nehmen. Connie trifft er dort nicht.

Doch die Reise wühlt Vieles auf, Erinnerungen kommen hoch und nachts im einsamen, stillen Hotelzimmer werden die Stimmen aus der Vergangenheit laut und beginnen Fragen zu stellen.

„Die Nacht war wie erwartet unruhig gewesen. Man kann nicht Leute treffen und reden und an Vergangenes denken, ohne dafür zu bezahlen. Ohne die ganze Nacht weiterzureden und an Vergangenes zu denken.“

(S.51)

Schnell wird klar, dass der Roman zwangsläufig zum Kammerspiel wird, denn es kommen Ausgangsbeschränkungen, Rückflüge nach England werden storniert und verschoben, Frank sitzt in seinem luxuriösen Hotel fest.

Für wichtige Besorgungen benötigt er ein Formular, um das Hotel verlassen zu können. Lediglich im Frühstücksraum und Restaurant begegnet er Menschen, die das Schicksal mit ihm teilen, dort auf unbestimmte Zeit gestrandet zu sein.
Und auf einmal hört er nachts Klopfgeräusche und stellt fest, dass sich auf dem Dachboden des Hotels ein kleiner Junge mit seiner Mutter und seinem kranken Großvater versteckt hält…

Tim Parks lässt die LeserInnen tief in die Seele seines Ich-Erzählers Frank blicken, der seine Gedanken und Erinnerungen offenbart. Ein vom Leben gezeichneter Mann, der müde und stellenweise resigniert ist, der sich mit seinem Alter und seiner Vergangenheit auseinandersetzen und der Entscheidungen treffen muss.

Die bedrohliche Atmosphäre und den Ausnahmezustand im Hotel hat Parks sehr intensiv und stimmig eingefangen. Das Klaustrophobische, Unwirkliche dieser Situation ist durch seine präzise, klare Stilistik auf jeder Seite greifbar.

Es wird viel gehustet und geniest in diesem Roman und sofort spürt man wieder das unangenehme Gefühl, die Verunsicherung. Immer wieder fühlt man sich bei Déjà-Vu-Momenten ertappt. Es ist einfach noch zu wenig Zeit vergangen, die Erinnerungen sind noch frisch.

„Hotel Milano“ ist ein nachdenkliches, ätherisches und altersweises Buch – eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und der existenziellen Erfahrung der Pandemie, die unser aller Leben von heute auf morgen veränderte.

Es hat etwas Trauriges und Morbides, erinnerte mich stellenweise an einen Totentanz bzw. ein Memento Mori der heutigen Zeit – und doch blitzen zwischendurch auch immer wieder Hoffnungsschimmer auf, in Form von selbstloser Hilfsbereitschaft und gelebter Solidarität.

Bis zu meiner nächsten Lektüre, die sich explizit mit der Pandemie beschäftigt, werde ich wohl wieder etwas Zeit verstreichen lassen, aber diese Leseerfahrung möchte ich dennoch nicht missen, zeigt sie doch, dass Literatur wirklich am Puls der Zeit und ein Spiegel derselben sein kann.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Antje Kunstmann, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
im Parks, Hotel Milano
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-563-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Tim Parks’ „Hotel Milano“:

Für den Gaumen:
Auch wenn das Hotel die Speisekarte aufgrund der besonderen Situation und der geringen Personaldecke verringern muss, speist Frank immer noch gut. So gibt es unter anderem „Risotto mit Kalbfleischbällchen“ (S.120).

Zum Weiterhören oder für einen Opernbesuch:
Zum Zeitvertreib schaut Frank sich auf dem Hotelfernseher Opern-Aufzeichnungen aus der Mailänder Scala an, so zum Beispiel Puccinis „Gianni Schicchi“ (S.65), das die berühmte Arie „O mio babbino caro“ enthält.

Zudem hat sich bei Frank als Ohrwurm die wunderschöne Arie „Soave sia il vento“ aus Mozarts „Così fan tutte“ festgesetzt. Da lohnt es sich ebenfalls wieder einmal reinzuhören.

Zum Weiterschauen:
Für die Umschlaggestaltung hat sich der Verlag Antje Kunstmann für ein – wie ich finde – sehr passendes Gemälde des französischen Malers Gustave Caillebotte entschieden: „Junger Mann am Fenster“ aus dem Jahr 1876, das sich heute im Besitz des Paul Getty Museums in Los Angeles befindet. Es spiegelt die Stimmung des Romans geradezu perfekt wieder: die Einsamkeit, der Blick vom Hotel nach außen… eine wirklich hervorragende Wahl.

Zum Weiterlesen:
Als Reiselektüre begleitet Frank Alfred Tennysons „Morte d’Arthur“. Immer wieder taucht er in den Gedichten des britischen Dichters ab.

6 Kommentare zu „Mailänder Kammerspiel

    1. Oh, vielen lieben Dank, Sophie! Das freut mich und ich kenne das Problem nur zu gut. Auch meine Lesewunschliste ist immer viiiiiieeeeel länger als die Anzahl bzw. Auswahl an Büchern, die ich dann schaffe tatsächlich zu lesen. Die Regale und Stapel um mich herum sprechen Bände… aber ich sehe das einfach mal positiv. Es ist immer gut, neugierig zu bleiben, interessiert zu sein und da ist es doch viel besser mehr Leselust zu haben, als man stillen kann. So wird es nämlich auch niemals langweilig! Und bei einem schönen Büchervorrat findet sich dann auch immer etwas, das gerade im Moment gut passt… herzliche Grüße! Barbara

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