Lettische Widerstandskraft

Upe ist das lettische Wort für Fluss. Und so heißt der preisgekrönte Debütroman von Laura Vinogradova: „Upe“ – in der deutschen Übersetzung lautet der Titel „Wie ich lernte, den Fluss zu lieben“. Eine schöne Gelegenheit, meine literarische Europareise bzw. Europabowle im Baltikum fortzusetzen und ein starker, intensiver Roman, der auf eine herbe, wehmütige Weise eine ganz besondere Kraft ausstrahlt.

Rute ist eine junge Frau, die in ihrem Leben schon viel Leid erlebt hat, viel mitmachen und wegstecken musste. Ihren Vater hat sie nie wirklich kennengelernt, ihre Schwester verschwand in jungem Alter unter ungeklärten Umständen spurlos und wurde nie mehr gefunden, ihre Mutter sitzt im Gefängnis.

Als der Vater stirbt, reist sie von der Stadt, in der sie lebt, aufs Land und verbringt einige Zeit in dessen Haus, nimmt sich eine Auszeit.

„Plötzlich wird Rute klar, dass die Welt voller Dinge ist, die sie einem Kind nicht erklären kann. Voller Dinge, die in Vergessenheit geraten sind. Unnütz geworden sind.“

(S.26)

Sie will herausfinden, was ihr dieses Haus zu erzählen hat über diesen Vater, der nie präsent war in ihrem Leben. Was war er für ein Mensch? Was war ihm wichtig? Wie haben ihn seine Nachbarn und sein Umfeld erlebt?

Die Flucht bzw. Auszeit scheint Rute gut zu tun. Sie lebt im Einklang mit der Natur, badet im Fluss, pflanzt Kartoffeln, arbeitet im Garten. Endlich scheint sie Abstand von manchen Dingen und Gedanken nehmen zu können. Sie kann sich häuten, Altes abwerfen, Loslassen und findet zu einer neuen Stärke.

„Alte Blätter und Zweige. Alt, alles alt. Alte Krokusse im Blumenbeet, alte Schneeglöckchen. Alt und trotzdem in voller Blüte. Rute möchte auch so aufblühen. Dann trägt sie die alten Geschichten halt in sich, was soll’s. Sie will blühen.“

(S.32)

Auch in Briefen, die sie an die verschwundene Schwester schreibt, gewinnt sie zunehmend an Einsicht, Klarheit und Distanz, um mit ihrer schwierigen Situation zurecht zu kommen. Wie kann sie die Lücke füllen, die ihre Familienmitglieder gerissen haben, die nach und nach alle aus ihrem Leben verschwunden sind?

„Gestern hatte ich das Gefühl, dass der Fluss Schmerzen hat. Dass er zu viel tragen muss. Die Leere ist so verdammt leer.“

(S.44)

Sie freundet sich mit der Nachbarin an, die alleinerziehend – nur durch den Bruder unterstützt, der jedoch viel Zeit auf See verbringt – ihren kleinen Sohn großzieht und gerade mit einem zweiten Kind schwanger ist. Matilde, Lūkass und Kristofs reißen Rute aus ihrer selbst gewählten Isolation und Einsamkeit und geben ihr das Gefühl, gebraucht zu werden – eine neue Aufgabe und Verantwortung.

„Sie ist zum ersten Mal im Fluss. Schnell schwimmt sie hinüber zum anderen Ufer, der Fluss ist nicht breit. Beim Zurückschwimmen hält sie in der Mitte des Flusses kurz an und spürt die Strömung. Lernt sie kennen. Sie reißt einen nicht mit, aber hindert einen doch daran, ruhig stehen zu bleiben. Man braucht Kraft, um in sich zu bleiben.“

(S.53)

Oft sind es Begegnungen mit anderen Menschen, die dem Leben eine neue Richtung geben, die einen dazu anregen, etwas zu ändern. Impulse von außen, die neue Perspektiven eröffnen.
Es ist schön zu lesen, wie Rute – trotz zahlreicher furchtbarer Schicksalsschläge – ihren Lebenswillen und ihre Widerstandskraft zurückgewinnt.

Vinogradova spielt mit sprachlichen Bildern, die sich mit dem Kontrast von Alt und Neu befassen. Sie lässt ihre Hauptfigur sich neu erfinden.
Rute lernt, den Fluss aber letztlich auch vor allem sich selbst zu lieben.
Sie kann sich mit der Vergangenheit versöhnen und Frieden machen, mit dem was war.

Der Text hat etwas sehr Elementares, Erdiges, Bodenständiges – die Natur spielt eine sehr große Rolle und die Autorin verdeutlicht, was wirklich wichtig ist im Leben, worauf es ankommt. Und sie macht Mut, zeigt, dass es möglich ist, auch in schrecklichen Situationen die Kraft zu entwickeln, nach vorne zu schauen. Während der Lektüre darf man Zeuge werden, wie die Resilienz letztlich gewinnt.

Die Ausgabe des Buchs aus der Reihe „schöne Bücher-Bibliothek“ der Edition der unabhängigen Verlage, wird seinem Namen absolut gerecht, es ist ein schönes, gebundenes Buch mit Lesebändchen und den dynamischen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Vitālijs Vinogradovs.

Bei mir hat sich während der Lektüre ein Sog, ein „Flow“ bzw. wirklich ein „Fluss“ entwickelt und ich habe das Buch an einem einzigen Abend gelesen.
Die gerade einmal 120 Seiten – im Klappentext wird auch von einer Novelle gesprochen – entfalten eine elementare Kraft und so ist es nicht verwunderlich, dass dieses eindrucksvolle Romandebüt 2021 mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde.
Wer bereit ist, mit Laura Vinogradova und ihrer Heldin Rute ins kühle Nass des Flusses abzutauchen, wird mit einer intensiven und lange nachhallenden Leseerfahrung belohnt.

Die bisherigen Stationen meiner Europabowle oder Literarischen Europareise haben mich nach Finnland, Irland, Italien, Österreich, Dänemark, Rumänien, Griechenland, in die Schweiz, nach Spanien, Slowenien, Frankreich, Schweden, Norwegen und Liechtenstein geführt – wer neu auf die Kulturbowle gelangt ist und noch weiterreisen oder nachlesen möchte, was bisher geschah, kann dies auf den farbig hinterlegten Länderbezeichnungen gerne tun. Weitere Stationen sind in Planung und werden folgen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Paperento Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Laura Vinogradova,
Wie ich lernte, den Fluss zu lieben
Übersetzt von Britta Ringer
Paperento Verlag
Edition der unabhängigen Verlage –
Schöne Bücher Bibliothek
ISBN: 978-3-947409-57-0

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Laura Vinogradovas „Wie ich lernte, den Fluss zu lieben“:

Für den Gaumen:
Mein kulinarischer Liebling in diesem Roman stand schnell fest, weil er einfach perfekt zum Schauplatz passt: „Birkensaft“ (S.39). Im Buch ist er ein Mitbringsel bzw. ein Willkommensgeschenk.

Zum Weiterlesen:
Bislang habe ich gerne die bisherigen Nobelpreisträger des jeweiligen Landes aufgeführt. Im Falle von Lettland gab es bisher leider noch keinen Literaturnobelpreis zu verzeichnen und ich kann mich auch nicht erinnern, ob ich bisher je ein lettisches Buch gelesen habe. Doch in letzter Zeit sind erfreulicherweise verstärkt auch Bücher aus Lettland in deutscher Übersetzung erschienen, die mein Interesse wecken: So zum Beispiel Edvarts Virzas (1883-1940) „Straumēni“ aus dem Jahr 1933 oder „Das Bett mit dem goldenen Bein“ von Zigmunds Skujiņš.

Edvarts Virza, Straumēni
Aus dem Lettischen von Berthold Forssman
Guggolz
ISBN: 978-3-945370-25-4

Zigmunds Skujiņš, Das Bett mit dem goldenen Bein
Aus dem Lettischen von Nicole Nau
MARE Verlag
ISBN: 978-3-86648-658-4

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