Die renommierte amerikanische Autorin Rebecca Makkai hat sich für ihren neuesten Roman „Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“ ein hochbrisantes Thema gewählt und beschreibt auf aufrüttelnde und unter die Haut gehende Art und Weise einen alten Kriminalfall, der wieder neu aufgerollt wird und nicht nur Gewalt an Frauen thematisiert, sondern vielmehr der Gesellschaft einen Spiegel vorhält, der zahlreiche weitere Missstände offenbart.
„Es war die Geschichte, die wieder und wieder erzählt wurde. Die mit dem Mädchen, das jung, weiß, hübsch und reich genug war, um die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen. Die von damals, als wir noch jung genug waren zu glauben, irgendjemand Klügeres wüsste die Antworten. Vielleicht war es die, bei der wir uns irrten. Vielleicht war es die, bei der wir uns alle, kollektiv, jeder Einzelne nur federleicht, irrten.“
(S.8)
Bodie Kane kehrt nach vielen Jahren als Gastdozentin an ihr ehemaliges College und auf den Campus des Granby Internats zurück. Sie freut sich zwar auf ein Wiedersehen mit ihrer Schulfreundin Fran, die seit ihrem Studium als Lehrerin an der ehemaligen Schule arbeitet und die Idee hatte, sie für einen Kurs zurückzuholen und doch hat sie Zweifel und Angst, welche Erinnerungen und Gefühle dort wieder in ihr hochgespült werden würden.
War doch ihr Abschied und das letzte Schuljahr überschattet gewesen vom Mord an ihrer Mitschülerin Thalia, die damals tot im Schwimmbecken der Schule aufgefunden wurde, so dass sie der Schule und den schmerzhaften Erinnerungen eigentlich für immer den Rücken kehren und vergessen wollte.
Als sie nun eine Gruppe neugieriger, ehrgeiziger und motivierter Schülerinnen und Schüler in einem Kurs über die Kunst des „Podcasts“ unterrichtet, wird schnell klar, dass es sich bei der damit verbundenen Projektarbeit um einen True Crime-Podcast handeln wird, der den alten Fall noch einmal näher beleuchten soll.
Zumal es bei der Aufklärung des Mordfalls so manche Ungereimtheit gab und der damals schnell gefundene, verurteilte und inhaftierte Täter auch nach Jahren immer noch seine Unschuld beteuert. Auch im Internet und den sozialen Medien kursierten seit Jahren unterschiedlichste Theorien zu Täter und Tathergang.
Schnell wird Bodie von einem Strudel erfasst, der sie zurückkatapultiert in ihre Schulzeit und ihr keine Ruhe mehr lässt. Sie recherchiert Tag und Nacht, befragt Zeugen, Mitschüler und Mitschülerinnen. Plötzlich werden alte, längst verschüttete Gedanken so lebendig, dass sich Gegenwart und Vergangenheit immer mehr vermischen.
„Welche Geschichte das war, spielt keine Rolle.
(S.89)
Sagen wir, es war die mit den jungen Schauspielerinnen, die Ja zu einer Poolparty sagten, ohne zu wissen, worauf sie sich einließen. Oder die mit dem Rugbyteam, das den Tod des Mädchens vertuschte und von der Schule gedeckt wurde. Nein, es war die mit dem Therapeuten, der jahrelang Minderjährige anmachte. (…) Es war die mit dem Milliardär, der die Frau in die Telefonzelle gedrängt hatte, was ihr aber niemand glaubte. (…)“
Sitzt seit all den Jahren etwa wirklich der Falsche im Gefängnis?
Und welchen Anteil daran hatte vielleicht sogar ihre eigene Zeugenaussage von damals?
Bodies Gedankenkarussell nimmt immer mehr an Fahrt auf und sie spielt Verdächtige, Motive und Alibis in jeglichen Schattierungen durch. Sie spricht mit all den mutmaßlichen TäterInnen im Geiste, in unruhigen Träumen und im richtigen Leben.
Schnell wird klar, dass ihr die damaligen Geschehnisse keine Ruhe mehr lassen werden, bevor sie nicht die Wahrheit ergründen und in Erfahrung bringen kann, was in dieser Mordnacht wirklich geschah.
„Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“ ist eine hochspannende, fesselnde Lektüre, die einen mitnimmt in diesen Kosmos eines weitgehend abgeschlossenen und beklemmenden College-Campus, eines von der Außenwelt abgeschotteten Internats mit eigenen Regeln und Gesetzen – geschriebenen und ungeschriebenen – und mit einer besonderen Dynamik, die sowohl in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Krisensituationen zum Tragen kommt.
Wie die Autorin die schmerzhafte und schonungslose Suche Bodies nach der lange im Unterbewusstsein verschütteten Wahrheit beschreibt, ist eindrucks- und kunstvoll und lässt einen das Buch irgendwann kaum noch aus der Hand legen.
Doch Makkais Roman ist mehr als nur ein Spannungsroman, denn zwischen den Zeilen stecken viele Botschaften und Aspekte, über die es es sich lohnt, tiefergehend nachzudenken. Es geht um Gewalt an Frauen, um Glaubwürdigkeit, um Vorurteile, Vorverurteilung und Justizirrtum, um Rassismus. Aber auch um Wahrheit, Lüge und die grauen Schattierungen dazwischen, um Machtmissbrauch und Manipulation.
Psychologisch hochinteressant ist der Roman raffiniert und intelligent konstruiert, so dass er sich klar von der breiten Masse aktueller Thriller und Kriminalromane abhebt. Makkais neues Werk gelingt das Kunstwerk, literarisch ansprechend und absolut packend zugleich zu sein. Ein Pageturner im besten Sinne – bei einer amerikanischen Autorin trifft es dieser englische Begriff wohl besonders gut – mit Anspruch und Niveau!
Eine weitere Besprechung findet man bei Trouvailles Littéraires.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eisele Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Rebecca Makkai,
Ich hätte da ein paar Fragen an Sie
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
Eisele Verlag
ISBN: 978-3-96161-173-7
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Rebecca Makkais „Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“:
Für den Gaumen:
Beim Wiedersehen mit Freundinnen gibt es „vegetarische Tacos“ und einen „Krug Margaritas“ (S.32) – ein wenig kuliniarisch-mexikanische Wärme, um dem kalten Winter draußen vor der Tür etwas entgegenzusetzen.
Und auch die Nachspeise: „karamellisierte Bananen mit Vanilleeis“ (S.35) hat sehr wohl großes Potenzial zum Seelenwärmer.
Zum Weiterhören oder für einen Opern- oder Kinobesuch:
Während der Schulzeit hat die Opern-AG die besondere Möglichkeit, in New York drei Aufführungen in der Met zu besuchen – ein prägendes, außergewöhnliches Erlebnis:
„Le Nozze di Figaro, La Bohème, Tosca. (…) ein Mädchen aus dem Süden Indianas bekam drei Opern in der Met zu sehen. Es war anstrengend, hat aber mein Gehirn neu verdrahtet.“
(S.131)
Im Dezember beginnt auch wieder die neue Spielzeit für „MET im Kino“ – eine schöne Möglichkeit auch in deutschen Kinos in den Genuss von Live-Aufführungen aus dem legendären New Yorker Opernhaus – oft mit Starbesetzung – zu kommen. Ich habe mir für diese Spielzeit fest vorgenommen, dieses Angebot wieder einmal zu nutzen.
Zum Weiterlesen:
Schon seit längerem habe ich den Roman „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai, der unter anderem auf der Shortlist des Pulitzer Preises stand, auf meiner persönlichen Leseliste und mein Interesse und die Lust ist jetzt definitiv noch größer geworden, das Buch auch wirklich bald zu lesen: eine Zeitreise ins Jahr 1985 und über die Zeit als AIDS sich in den USA immer mehr verbreitete.
Rebecca Makkai, Die Optimisten
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
Eisele Verlag
ISBN: 978-3-96161-077-8
„karamellisierte Bananen mit Vanilleeis“ versöhnt mich ja mit allem! der Roman scheint ein richtiger Thriller gewesen zu sein. Im Grunde möchte ich jetzt schon gerne wissen, was da geschah! Das Gute an Büchern ist ja auch, dass Fälle mit Sicherheit gelöst werden können – die Lügen in der Realität spinnen sich ja oft Jahrzehnte weiter, leider …
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Makkais Buch ist wirklich tiefgründig – wohl auch bewusst als Roman und nicht als Thriller bezeichnet – und trägt genau diesem Aspekt der Lügen, die sich verselbständigen und lange fortspinnen auf intelligente Weise Rechnung. Ich bin definitiv kein Thriller-Fan. Doch dieser Roman war einfach spannend und legt den Finger in viele Wunden der heutigen Zeit. Herzliche Grüße, morgen einen schönen Sonntag und Dir ein lesefreundliches, langes Wochenende!
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Freu mich nach dem Lesen deines Artikels jetzt noch mehr auf den Roman und verspreche bei der Lektüre Oper zu hören. Geht auch Händel – was meinste ? 😉
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Ein dramatischer Händel passt sicher auch sehr gut. 🙂
Vorausgesetzt man kann sich beim Lesen trotz Musik mit Gesang/Text noch konzentrieren. Ich bin beim Lesen eher „Team Stille“ oder vielleicht gerade noch Instrumentalmusik… sonst bin ich dann doch irgendwie zu sehr abgelenkt. 😉
Mich hat der Roman definitiv gefesselt…
Viel Freude und eine spannende Lektüre wünsche ich Dir!
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Ein guter Krimi/Roman muss ja auch kein Thriller sein, um spannend zu sein
Und spannend klingt Dein vorgestellt es Buch
Ich finde ja gerade solche Romane, die soziale und andere Probleme beschreiben, wo der „Fall“ eigentlich nur das Konstrukt ist, besonders gut. Wenn man die Missstände sozusagen über die Hintertür um die Ohren gehauen bekommt.
Danke Dir und liebe Grüße
Nina
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Da hast Du vollkommen recht, Nina.
Um einen Thriller hätte ich vermutlich ohnehin einen Bogen gemacht.
Aber dieses Buch war raffiniert und regt wirklich zum Nachdenken an. Die Autorin hat mich überzeugt, so dass ich mir „Die Optimisten“, von dem ich auch schon viel Gutes gelesen und gehört habe, jetzt auch schon besorgt habe.
Schöne Sonntagsgrüße und einen goldenen Oktober! Barbara
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„Die Optimisten“ habe ich in meinem Blog ja schon wärmstens empfohlen und kann es Dir hier nur noch einmal ans Herz legen. Und mit ihrem neuen Roman knüpft Rebecca Makkai ja offenbar nahtlos an diese hohe Qualität an. Ich bin gespannt!
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Ja, ich bin jetzt wirklich neugierig geworden, ob mir „Die Optimisten“ vielleicht sogar noch besser gefallen. Denn thematisch und zeitgeschichtlich finde ich die 80er Jahre wirklich interessant, weil sie – zumindest gefühlt, wenn ich so auf meine Lektüreliste der letzten Zeit bzw. Jahre schaue – aktuell eher seltener beschrieben werden. Mal sehen, wann ich mir die Zeit für die doch ca. 600 Seiten, die ich nicht „zerrupft“, sondern möglichst mit ausreichend Zeit am Stück lesen möchte, nehmen werde. Herzliche Grüße und einen wunderbaren Lese-Oktober!
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Ja, ich hatte auch Respekt vor den über 600 Seiten, war dann aber sehr schnell durch 🙂
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🙂 Ich werde auf jeden Fall berichten, sobald ich mich dem Schmöker gewidmet habe. Sonnige Sonntagsgrüße!
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