Eingeschneit in Müstair

Literatur hat die Kraft, uns an besondere Orte zu führen, an Lieblingsorte, Sehnsuchtsorte, an Orte, die man besonders gut kennt und liebt oder an Orte, von denen man noch nie gehört hat, die einen aber sofort neugierig werden lassen. Letzteres war bei mir bei der Lektüre von Constance Hotzs Roman „Vier Tage im März“ der Fall. Müstair war mir ehrlich gestanden bisher kein Begriff, obwohl das mittelalterliche Kloster St. Johann in dem kleinen Ort im Schweizer Kanton Graubünden an der Grenze zu Südtirol seit 1983 zum UNESCO Weltkulturerbe zählt.

Auch Eva, eine junge, erfolgreiche Fotografin, die aufgrund ihrer unkonventionellen Bildgestaltung bei ihrer Kundschaft sehr gefragt ist, möchte auf der Rückreise von einem Fotoshooting in Südtirol eigentlich nur kurz in Müstair Station machen, um sich den Ort anzusehen. Doch auch im März kann es in den Bergen noch richtige Wintereinbrüche geben und als der Schneefall immer stärker wird, wird schnell klar, dass die Passstraße, die sie eigentlich für ihren Heimweg nehmen wollte, gesperrt wird.

„Hier kreuzten sich Zeiten, Himmelsrichtungen und Geschichten. Die ältesten Geschichten lagen im Boden vergraben, andere waren hinter den Klostermauern verborgen, jüngere wurden in den Häusern erzählt und in den Herzen bewahrt.“

(S.10)

Sie sitzt fest, eingeschneit und weil sie keinen großen Umweg nach Hause nehmen möchte, beschließt sie, in dem geschichtsträchtigen Örtchen zu übernachten. Sie macht aus der Not eine Tugend, quartiert sich in einer Pension ein, besucht den dörflichen Gasthof und nimmt sich die Zeit, die Klosterkirche und die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen.

„Der Schnee hatte die Welt verzaubert, Schnee wie Mailaub in den Büschen, Schnee, der den Weg der Katze verriet, Schnee, der Schilder überschrieb und Verbote aufhob, Schnee, der aus der Holzbank am Weg ein weißes Sofa gemacht hatte, Schnee wie gleißender Marmor bis zum Horizont.“

(S.41/42)

In Eva, die sich in ihrem hektischen Alltag normalerweise kaum Ruhe gönnt und rastlos durchs Leben hetzt, ohne anzukommen, beginnt sich das Gedankenkarussell zu drehen. Sie begegnet einem attraktiven Archäologen, der ihr die Forschungsarbeit und Besonderheiten der Kirche und des Klosters erklärt. Sie taucht ab und vertieft sich in die faszinierenden Fresken und Bilder.

„Die schöne Silhouette des Klosters, die Zinnenreihen der Türme wie Himmelstreppen, der Kirchturm mit seinen breiten Schultern, ein guter Hirte, der seine Herde bewacht. Friedlich lag das Kloster da. Kein Licht, kein Laut störte seinen Schlaf. In seinen Mauern war eine vage Helle, vom Schnee verstärkt. Ein stilles, uraltes Leuchten, ein ockerfarbenes ewiges Licht.“

(S.72)

Aus einem Tag Pause werden vier und plötzlich gibt es im Ort nicht nur einen rätselhaften Todesfall, in dem ein fußballbesessener Kommissar ermittelt, sondern auch ihr Partner, mit dem sie eigentlich das Wochenende verbringen wollte, taucht auf, stellt sie zur Rede und konfrontiert sie mit einem Vorschlag, der sie in Unruhe versetzt.

„Wehmut und Leichtsinn. Verloren und unverloren. Wie nie. Eva hatte doch dieses Müstair nur kurz streifen wollen, wie sie immer alles nur kurz streifte für ein paar glitzernde Eindrücke, für eine feine Sehnsucht, für die Möglichkeiten, aus denen sie ihr Leben zusammenstückelte. Doch diesmal ging ihre Rechnung nicht auf. Sie ließ sich aufhalten. Ließ sich auf Dinge ein, die sie nichts angingen, ließ sich erschrecken und verzaubern, erlag der Macht der Bilder.“

(S.72)

Eva ist als Fotografin ein sehr optischer Mensch und hat einen besonderen Blick für Vieles. Constance Hotz, die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist, schrieb das Buch während mehrerer Aufenthalte in Müstair und fand dafür eine sehr schöne, ausdrucksstarke Sprache: da leuchtet und glitzert es, der Zauber von Farben kommt ebenso zum Ausdruck, wie die Faszination der verschneiten Berglandschaft. Schöne Worte, feine Formulierungen und Sätze, die poliert und geschliffen ihren eigenen Glanz entfalten und welche die Kraft der Bilder sehr gut zur Geltung kommen lassen – das macht Freude beim Lesen.

Hotz schildert die besondere Magie des Ortes, der etwas Mystisches hat, was schon im Namen Müstair mitzuklingen scheint.
Eva, die in Müstair zunächst unfreiwillig landet, gleichsam ausgebremst, durch den Schnee gestoppt wird und dann beginnt, die Zwangspause zu nutzen, innezuhalten, zur Ruhe zu kommen. Sie stellt sich unangenehmen, lange aufgeschobenen Überlegungen und Entscheidungen und wird sich in der Stille und Abgeschiedenheit des eingeschneiten Ortes plötzlich über vieles klar, das sie lange verdrängt hatte.

Ich mochte die Stimmung, das Meditative, das im Roman mitschwingt. Die Krimihandlung am Rande – der Verlag hat wohl bewusst die Bezeichnung Roman statt Kriminalroman gewählt – sorgt für eine weitere Prise Spannung und etwas zusätzliche humorige Leichtigkeit in persona des grantelnden Kommissars Koller, steht aber nicht im Vordergrund.

Der Titel ist auch aufgrund der schönen Gestaltung des gebundenen Buchs mit Lesebändchen ein Schmuckkästchen für Bibliophile und gerade die feine Zeichnung von Tony Grubhofer aus dem Jahr 1899 auf dem Umschlag bzw. die grafische Aufmachung der Neuauflage hat mich sofort angesprochen, denn sie transportiert die Einfachheit und die Ruhe, die der Ort auf Eva ausstrahlt auf wunderbare Weise.

Ein Buch über das Sehen und Wahrnehmen, die Kraft der Bilder und der Stille, über einen besonderen Ort und was geschehen kann, wenn man innehält und sich Zeit nimmt für sich selbst und die eigenen Gedanken.
Ein feines, leises und unaufdringliches Buch mit gerade einmal knapp 180 Seiten, das einen bei der Lektüre ebenfalls zur Ruhe kommen lässt und das unweigerlich die Neugier weckt auf diesen geschichtsträchtigen, magischen, mystischen Ort in den Bergen namens Müstair, den ich jetzt wohl nicht mehr vergessen werde.

Mit „Vier Tage im März“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 24 für 2024erfüllt – Punkt Nummer 18) auf der Liste: Ich möchte ein Winterbuch lesen. Zwar liegt der März schon an der Schwelle zum Frühling, aber der viele Schnee in den Bergen und die geschilderte Atmosphäre im Roman passen aus meiner Sicht perfekt für diese Kategorie.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim 8 grad Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Constance Hotz, Vier Tage im März
8 grad
ISBN: 978-3-910228-30-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Constanze Hotzs „Vier Tage im März“:

Für den Gaumen:
Für Kommissar Koller gibt es deftigen, kulinarischen Trost:

„Auf der Rückfahrt genehmigte sich Koller einen Tiroler Teller mit Braten, Knödeln und viel Sauce.“

(S.88)

Zum Weiterklicken oder für einen Besuch:
Natürlich hat mich das Buch neugierig auf Müstair und das geschilderte Benediktinerinnenkloster St. Johann gemacht, das seit 1983 zum UNESCO Weltkulturerbe zählt. Auf der Homepage des Klosters finden sich wunderbare Bilder, die einen guten ersten Eindruck dieses besonderen Ortes vermitteln.

Zum Weiterhören oder für einen Opernbesuch:
Ein Gemälde in der Kirche zeigt den Tod des Johannes. Ein Stoff, der in der Kunst immer wieder aufgegriffen wurde, so zum Beispiel von Oscar Wilde oder aber auch von Richard Strauss in seiner Oper „Salome“.

Zum Weiterlesen:
Wer literarisch noch etwas länger im Gebirge bzw. einem Bergdorf verweilen möchte, dem kann ich auch Paolo Cognettis Roman Das Glück des Wolfesempfehlen, den ich bereits hier auf dem Blog vorgestellt habe.

Paolo Cognetti, Das Glück des Wolfes
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt
Penguin
ISBN: 978-3-328-60203-3

Ein Kommentar zu „Eingeschneit in Müstair

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