Fortschrittsliebender Witwentröster

Es ist immer wieder aufs Neue faszinierend, literarisch in eine andere Zeit abzutauchen. Günter Neuwirths neuer Kriminalroman aus der Reihe um den Triester Ispettore Bruno Zabini „Südbahn nach Triest“ entführt die Leserschaft ins Wien und Triest der Donaumonarchie im Jahr 1908. Was war das für ein Jahr dieses 1908?

In Wien regiert Kaiser Franz Joseph I. und löst die bosnische Annexionskrise aus. Gustav Klimt beginnt, sein wohl berühmtestes Gemälde „Der Kuss“ zu malen.
Die Venus von Willendorf wird ausgegraben.
Und (Achtung – unbezahlte und unbeauftragte Werbung bzw. Markennennung) Melitta Bentz erhält den Gebrauchsmusterschutz auf die von ihr erfundene Filtertüte, Maggi bringt den ersten Brühwürfel auf den Markt und die Toblerone wird erfunden.
Um diese Ereignisse geht es zwar konkret in Neuwirths Krimi nicht, aber man merkt bei der Lektüre, dass 1908 viel passierte, es geschäftige Zeiten waren, viele Unternehmen gegründet, viele Erfindungen gemacht bzw. patentiert wurden oder sich gerade im Markt durchsetzten.

Der Triester Polizeiinspektor Bruno Zabini ist technikbegeistert und liebt den Fortschritt. Gerne begutachtet er neue Erfindungen, interessiert sich für die zahlreichen Neuerungen. Allein aus technischen Gründen ist die Bahnreise, die er mit seiner geliebten Luise unternimmt, die gerade frisch verwitwet nun für ein Leben an seiner Seite frei zu sein scheint, hochgradig spannend für ihn. Triest – Wien und zurück – all die brandneuen Lokomotiven – Zabini ist fasziniert.

„Natürlich, das hätte ich mir denken können, ein antifeudaler Freigeist mit der Neigung zum Ehebruch findet so etwas gut.“

(S.76)

Zudem ist es auch noch seine erste Reise in die Hauptstadt Wien, in der doch auch seine Wurzeln liegen, zumal seine Mutter aus Wien stammte. Eine Reise zu den Anfängen und ein genussvoller, kulturell anregender und entspannter Urlaub soll es werden. Gemeinsam mit seiner Liebsten Luise, ihrem Sohn Gerwin samt Kindermädchen Grete möchte Zabini sich eine Auszeit vom Polizistenalltag nehmen.

Doch schon bald zieht ihn der Wiener Polizist Speyer in einem verdächtigen Todesfall zu Rate, bei dem es auch Verbindungen nach Triest zu geben scheint. Denn die reiche Witwe Henriette Hohenau scheint keines natürlichen Todes gestorben zu sein und die Hinterbliebenen können die Testamentseröffnung kaum erwarten – und ewig schleichen die Erben.

„Ich ahne beträchtliches familiäres Konfliktpotenzial.“

(S.90)

Die Familienkonstellation des Opfers birgt reichlich Sprengstoff und es mangelt nicht an Verdächtigen. Dass einige davon sogar im selben Zug wie Zabini von Wien nach Triest zurückreisen, bietet für ihn ungeahnte Ermittlungsmöglichkeiten, zumal plötzlich sogar noch eine Leiche im Gepäckwagen gefunden wird. Auch zurück in der italienischen Heimat lässt ihn der Fall nicht los.

Neuwirth widmet in diesem Fall dem Fortschritt und den technischen Neuerungen der damaligen Zeit große Aufmerksamkeit. Da werden detailverliebt die neuesten Lokomotivtypen oder Bremssysteme bis hin zu Schreibmaschinen, Thermoskannen oder die Veränderungen durch die fortschreitende Elektrifizierung beschrieben. Es ist Teil seiner Art, die starken Veränderungen der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts darzustellen.

Die Idee, Zabini zumindest für die erste Hälfte des Romans nach Wien reisen zu lassen, bietet selbstverständlich auch wunderbare Gelegenheiten, die dortige Atmosphäre zur spannenden Kulisse für die Krimihandlung werden zu lassen. Da wird im Hotel Sacher logiert, in Kaffeehäusern pausiert und stilvoll soupiert. Ein Besuch im Prater darf ebenso wenig fehlen, wie ein Ausflug auf die Rennbahn.

„Schon bei ihrem ersten Spaziergang durch die Wiener Innenstadt hatten sie mehrere Buchhandlungen besucht. Sie könne, hatte Luise gesagt, doch nicht durch die Hauptstadt flanieren, ohne die neuesten Bücher in den Schaufenstern und auf den Ladentischen zu inspizieren. Der Besuch der Buchhandlungen sei mindestens so wichtig wie der des Stephansdoms oder der Hofburg.“

(S.79)

Ich mag den österreichischen Tonfall, die teils etwas antiquiert-formal klingenden Dialoge, mit welchen Neuwirth die k.u.k-Zeit lebendig werden lässt. Zabini bricht als Hauptfigur oft mit den Konventionen der damaligen Zeit und ist ein Mensch, der im Augenblick zu leben versteht. Auch im vierten Band hat der Autor den Charakter erneut weiterentwickelt und ihn durch den Tapetenwechsel Triest-Wien nochmals in ein neues, abwechslungsreiches Umfeld gesetzt.

Persönlich würde ich den Einstieg in die Reihe mit einem früheren Band bzw. chronologisch empfehlen (in den weiterführenden Inspirationen finden sich die Details hierzu), da man hier die private Geschichte der Figuren besser verfolgen kann. Doch der Kriminalfall kann auch einzeln gelesen werden, da er in sich abgeschlossen ist.

Doch neuer Schauplatz, neues Glück. Wer also eine literarische Bahnreise über den Semmering von Wien nach Triest und eine Zeitreise ins bewegte Jahr 1908 unternehmen möchte, ein Faible für historische Kriminalromane, Österreich und die k.u.k-Zeit hat, der wird auch an Zabinis viertem Fall Gefallen finden.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Gmeiner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Günter Neuwirth, Südbahn nach Triest
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-0630-0

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Südbahn nach Triest“:

Für den Gaumen (I):
In Speyers Stammcafé gibt es ein herzhaftes Frühstück ganz nach seinem Geschmack – gerade wenn die Nacht wieder einmal kurz war – um die Energiereserven aufzufüllen:

„Johann, seien Sie doch so gut und bringen Sie eine Eierspeis aus drei Eiern, zwei Butterbrote mit Schnittlauch und einen großen Mokka.“

(S.30)

Für den Gaumen (II):
In Wien wird dank Luise stilvoll im Sacher logiert und diniert. Und auch am Nachmittag geht es luxuriös zu, doch nicht bei Mokka, Mélange oder Verlängertem, sondern ausnahmsweise fast britisch:

„Luise hatte beim Eintreffen im Hotel Sacher eine Kanne Ceylon und Teegebäck bestellt.“

(S.104)

Zum Weiterlesen bzw. vorher lesen:
Wer Zabini, Luise und Fedora nicht kennt und sich gerne chronologisch der Reihe nach auf die Reise nach Triest begeben möchte. Auf meiner Bowle habe ich bislang alle Bände der Krimireihe vorgestellt – also gerne nochmal nachlesen:
Den Auftakt bildete Dampfer ab Triest, gefolgt von Teil 2 Caffè in Triestund Teil 3 Sturm über Triest.

Günter Neuwirth, Dampfer ab Triest
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-2800-5

Günter Neuwirth, Caffè in Triest
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-0111-4

Günter Neuwirth, Sturm über Triest
Gmeiner
ISBN: 978-3-8392-0418-4

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