Schwere See

Literarisch mit dem ältesten seetüchtigen Kreuzfahrtschiff, das seit 2016 den Namen Astoria trägt, über die Weltmeere schippern und dabei so manches über die Seefahrt und die deutsch-deutsche Geschichte zu erfahren, das ermöglicht „Fernwehland“, der neue Roman der Leipziger Autorin Kati Naumann. In ihrem Buch begleitet sie mehrere Generationen einer sächsischen Familie, deren Leben eng mit der Schifffahrt und dem wechselvollen Schicksal des legendären DDR-Kreuzfahrtschiffes „Völkerfreundschaft“ verbunden ist, teilweise durch schwere See.

„Henri konnte das Meer spüren, lange bevor er es sah oder hörte. Als er das Fenster in dem stickigen Zugabteil hinunterdrückte, drang schwere Luft herein. Sie schmeckte salzig und vertraut.“

(S.5)

2019 gehen Henri und Simone als Passagiere in England an Bord der MS Astoria, um eine Kreuzfahrt anzutreten. Sie haben gespart und wollen noch einmal eine Reise auf genau diesem Schiff erleben und genießen, das für sie eine ganz besondere Bedeutung hat. Denn es ist der Ort, an dem sie sich vor vielen Jahren kennengelernt haben, der eine Zeit lang ihr Arbeitsplatz war, denn Henri war Matrose und Simone Stewardess. Damals hieß es „Völkerfreundschaft“ und war ein Urlaubsschiff der DDR.

Als die beiden beim abendlichen Dinner am Tisch mit der Schwedin Frida ins Gespräch kommen, die nicht nur die Schiffstaufe der „Stockholm“ 1946 miterlebt, sondern bereits zahlreiche Reisen mit dem Schiff unternommen hat, merken sie schnell, dass sich nicht nur sie selbst auf eine Reise in die Vergangenheit begeben, sondern auch viel gemeinsamen Gesprächsstoff haben werden.

„In der New York Times stand am nächsten Tag ein Artikel, in dem das Schiff als die schlimmste schaukelnde Nussschale auf dem Nordatlantik bezeichnet wurde.“

(S.93)

Während Frida auf jeder Reise mit dem legendären Schiff feste und immer gleiche Rituale durchläuft, um an die glücklichen Momente mit ihrem verstorbenen Mann zurückzudenken – wie zum Beispiel besondere Drinks zu bestimmten Anlässen, ein Bad im Pool oder die Teilnahme am Freizeitprogramm – schweifen Henris Erinnerungen zurück in seine Kindheit und zu seiner Familie in Sachsen.

So geht der Blick zurück zu Vater Erwin, der sich in Kötzschenbroda so sehr nach seiner alleinerziehenden Mutter sehnt, die auf einem Elbdampfer arbeitet und die er nur so selten sieht. Erwin, den die Seefahrersehnsucht früh packt und der später mit seiner Marion und dem Sohn Henri eine unvergessliche Reise auf der Völkerfreundschaft unternehmen wird, die bis nach Kuba führt.

„Eine nette Stewardess führte sie zu ihrer Dreipersonenkabine mit Etagenbett auf einem der unteren Decks. Sie zeigte ihnen auch die gemeinschaftlich benutzten Bäder und Toiletten. Da die Völkerfreundschaft nun für einen Arbeiter-und Bauern-Staat fuhr, war sie zu einem Einklassenschiff umfunktioniert worden.“

(S.192)

Die wechselvolle Geschichte des Schiffes von der Jungfernfahrt bis hin zur tragischen Kollision mit der Andrea Doria vermischt sich mit den nicht weniger turbulenten Lebensgeschichten von Henri, Simone und Frida.
Und da ist plötzlich auch noch die junge, unbedarfte Passagierin Elli, die sich neugierig und offenbar mit ganz eigener Agenda unter die bunt gewürfelte Reisegesellschaft mischt…

„Doch Simone fand, dass unendlich viel zu sehen war. Wohin sie sich auch drehte, nichts als Meer, dessen Oberfläche und Farbe sich ständig veränderte, und es schien ihr, als gäbe es eine Million Blautöne.“

(S.303)

Für mich ist es immer ein gutes Zeichen, wenn ich bei der Lektüre eines Romans auch Neues erfahre und lerne. So war mir zum Beispiel die Steckenpferd-Bewegung (hier geht es zum Wikipedia-Artikel) bislang kein Begriff, die durch Planübererfüllung Mittel zur Beschaffung von Frachtschiffen erarbeitete, und auch die Blicke hinter die Kulissen eines Kreuzfahrtschiffes bzw. die Abläufe an Bord oder Einblicke und die Ausbildung zum Matrosen fand ich interessant.

Zudem durfte ich auch angesichts der Schauplätze des Romans gleichsam literarische Landgänge an schönen Orten machen, wie zum Beispiel im wunderbaren Dresden, im zauberhaften Göteborg oder aber auch im atmosphärischen Honfleur mit seiner Seemannskirche Sainte-Catherine.

„Sie spazierten über buckeliges Katzenkopfpflaster durch enge Straßenschluchten, in denen sich krumme Fachwerkhäuser aneinanderlehnten. Es roch nach der Feuchtigkeit, die von der Seine heraufkroch und auf dem Mauerwerk bizarre Salpeterblumen bildete. Die Farben der bunten Fassaden am alten Fischereihafen flossen ineinander wie auf einem Gemälde von Monet.“

(S.56)

„Fernwehland“ ist eine süffig lesbare Familiensaga, welche die menschlichen Schicksale der Hauptfiguren mit einer gehörigen Prise historischem Hintergrund verbindet. So erfährt man nicht nur die großen Meilensteine der mittlerweile fast 80-jährigen Geschichte des besonderen Schiffes, sondern auch einiges über den Alltag in der DDR und die Zeit der deutschen Teilung. Und gerade die eingeflochtenen zeitgeschichtlichen Aspekte machten für mich die Stärke des Romans aus, da ist es verzeihlich, dass manche Ereignisse stark konzentriert werden und die Geschichte der Figuren so stellenweise vielleicht etwas konstruiert wirkt.

Wer Lust auf Seemannsgarn, Schiffsgeschichten und eine Reise in die deutsch-deutsche Vergangenheit hat, der kann sich vertrauensvoll und umweltfreundlich an Bord von Kati Naumanns Roman begeben – etwas Traumschiff-Feeling und Fernweh inklusive.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim HarperCollins Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Kati Naumann, Fernwehland
HarperCollins
ISBN: 978-3-365-00743-3

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Kati Naumanns „Fernwehland“:

Für den Gaumen (I):
Wir beginnen einfach mal zu Hause in Sachsen, denn hier schmeckt Erwin seine Heimat, wenn er Folgendes serviert bekommt: eine „Tasse Malzkaffee und ein Stück Eierschecke“ (S.27).

Rezepte zum Nachbacken gibt es unter anderem bei Jennyisbaking oder beim Plötzblog.

Für den Gaumen (II):
Henri führt die Seereise mit seinen Eltern nach Kuba – genau genommen in die Hauptstadt Havanna, wo er etwas ganz Besonderes verkosten darf:

„Sein Vater bohrte mit dem Löwenmesser ein Loch hinein, sodass er den ersten Schluck Kokosnusswasser seines Lebens trinken konnte.“ (S.202)

Für den Gaumen (III):
Doch irgendwann geht es kulinarisch doch auch wieder zurück in deutsche Gefilde mit folgender Spezialität:

„Die Küchenhilfe dahinter bot ihr verschiedene Speisen an. Simone freute sich, dass Würzfleisch dabei war. Davon hatte ihr Vater geschwärmt.“ (S.299)

Zum Weiterhören:
Auch die Musik sollte natürlich zum maritimen Setting passen mit einem Welthit, der erst 1975 in der Version von Rod Stewart richtig berühmt werden sollte:

„Unter ihnen wogten die Wellen, und über ihnen wölbte sich der Himmel voller Sterne, und dazu spielt die Band Sailing von den Sutherland Brothers.“ (S.284)

Zum Weiterlesen:
„Fernwehland“ war jedoch für mich nicht das einzige Buch im Januar, das sich auf einem Schiff abspielt, sondern ich habe auch Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“ gelesen, das mit einem ganz besonderen Passagier und einer interessanten Geschichte aufwarten kann.

Michael Köhlmeier, Das Philosophenschiff
Hanser
ISBN: 978-3-446-27942-1

11 Kommentare zu „Schwere See

    1. Vielen lieben Dank, Bernd! Es freut mich, wenn ich mit dieser literarischen Seereise auch bei Dir auf Anklang gestoßen bin. Oft sind es kleine, leise Aspekte in Büchern, die bei mir etwas zum Klingen bringen und bei der Beschreibung von Honfleur, war es einfach zu verlockend, gleich mal in meinen Fotos zu kramen. Herzliche Sonntagsgrüße nach Nürnberg! Barbara

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    1. Da musst Du aber wirklich Glück haben. Hier in Niederbayern bekommt man keine Eierschecken. Zumindest habe ich hier noch nie welche gesehen. Die habe ich bisher nur in Dresden verkosten können. Herzliche Sonntagsgrüße!

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      1. Bei einem Bäcker hier in der Gegend gibt es die tatsächlich regelmäßig. Ich weiß nicht, ob da vielleicht irgendeine Beziehung zu Ostdeutschland besteht oder ob die einfach im Sortiment ist, weil sie hervorragend schmeckt. Ich wünsche einen angenehmen Wochenauftakt (ob mit oder ohne Eierschecke)!

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      2. Dankeschön! Da werde ich wohl beizeiten mal nachhören… ob ich auch nachbacke muss sich noch zeigen. 🙂 Hier bei uns wäre jetzt eigentlich erst mal Krapfenzeit…

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