Frostiges Feuer

Tulla Larsen ist die Frau mit dem feuerroten Haar, die auf einigen Gemälden des norwegischen Expressionisten Edvard Munch zu sehen ist. Sie war sein „Sonnenscheingesicht“, über einen kurzen Zeitraum von 1898 bis 1902 seine Muse, sein Modell und seine Verlobte. Die Beziehung endet tragisch mit einem Pistolenschuss in Munch’s Sommerhaus, bei welchem er an der Hand verletzt wird.

Die norwegische Autorin Lene Therese Teigen hat mit „Schatten der Erinnerung“ nun einen niveauvollen Roman über die Frau und Künstlerin Tulla Larsen geschrieben und erzählt die tragische Liebes- und Lebensgeschichte erstmals aus ihrer Perspektive.

„Manch einer hat einen so starken Willen, dass der Wille anderer pulverisiert wird. Die anderen verlieren nicht nur das kleine bisschen Talent, das sie besitzen, sie verlieren auch den Glauben. Einige erhalten die Erlaubnis, Hauptpersonen zu sein. Andere ziehen sich stillschweigend zurück.“

(S.26/27)

Die dominante Persönlichkeit und die Hauptperson in der Beziehung zwischen den beiden war stets der von Selbstzweifeln geplagte Edvard Munch, der als kränkelnder und völlig auf seine Kunst fixierter Mensch seine ganz eigene Vorstellung hat, wie die Beziehung auszusehen hat und Tulla durch sein Verhalten quält und zunehmend in die Isolation und Verzweiflung treibt.

Es ist eine zutiefst unglückliche, leidvolle Beziehung, die sich zwischen den beiden entspinnt und die Tulla schließlich sogar zu einem Selbstmordversuch treibt – ein verzweifelter Hilferuf, der weitgehend ungehört ebenso verhallt, wie alle ihre Versuche, dem Mann Edvard Munch nahe zu sein.

„Weder Tränen noch Schreie. Mein Schrei verschwand, er hatte ihn gestohlen. Hinein in die Bilder damit: Du bist so und so, genau so bist du. Er hat meine Persönlichkeit gestohlen, sie zu etwas umgeformt, das er brauchte, um seine Vorstellungen davon zu bestätigen, wie die Welt zusammenhängt.“

(S.37)

Nach dem plötzlichen Ende der Beziehung – dem legendären Pistolenschuss in Munch’s Sommerdomizil 1902 – und der Lösung der Verlobung, wird Tulla später ihr Glück in zwei anderen Ehen suchen. Teigen erzählt im Roman auch über diese späteren Phasen ihres Lebens und wie die Zeit mit Munch – heute würde man wohl von einer toxischen Beziehung sprechen – sie im Grunde lebenslang gezeichnet und geprägt hat – bis zu ihrem Tod 1942 im Alter von 72 Jahren.

Der Text schwebt, mäandert, er wirkt stellenweise wie ein Fiebertraum, wahnhaft, ein stetes Gedankenkarussell, das sich im Kreis dreht. Der Roman ist daher eine anspruchsvolle, fordernde und hin und wieder auch sperrige Lektüre.
Es schmerzt zu lesen, wie Tulla unter der Beziehung leidet, immer mehr dem Alkohol zuspricht und doch auch immer wieder die Schuld bei sich sucht. Als Leser begleitet man sie bei ihrem Ringen um ihre Rolle als Frau, der Suche nach ihrem Platz im Leben und dem Wunsch nach Bestätigung als Künstlerin. Es fällt ihr schwer, sich von der Vergangenheit und der Person Edvard Munch zu lösen.

Keine leichte Kost, die Lene Therese Teigen, die in Norwegen bekannt ist für ihre fundiert recherchierten Theaterstücke, die oft auch das Thema Gleichberechtigung behandeln, hier der Leserschaft serviert.
Dieser Roman führt ein Exempel eines Paares vor Augen, das gerade nicht gleichberechtigt und nicht auf Augenhöhe agierte; ein Beziehung, die letztlich beiden Leid und Schmerz zufügte. Der Leser wird Zeuge der Qualen und des Scheiterns.

„Damals verstand sie nicht, dass derjenige, der sich hätte verändern müssen, damit eine Beziehung daraus hätte werden können, er war.“

(S.160/161)

Edvard Munch (1863 – 1944) ist weit mehr als nur der Schöpfer seines berühmtesten Werkes „Der Schrei“. In Oslo wurde am 22.10.2021 das große neue Munch-Museum eröffnet, welches den Nachlass Munch’s und insgesamt eine Sammlung von 42.000 Objekten verwaltet.

Tulla Larsen war bisher lediglich eine meist verkannte Randfigur in den Biografien über Edvard Munch und ein Modell, das er auf seinen Gemälden verewigte.
In der bisherigen historischen Aufarbeitung und den Munch-Biografien wurde Tulla Larsen oft negativ dargestellt und auf den Selbstmordversuch und die Episode „des Schusses“ reduziert. Lene Therese Teigen möchte sie daher mit „Schatten in Erinnerung“ jetzt differenzierter betrachten, sie gleichsam aus dem übergroßen, verdunkelnden Schatten Munch’s holen und sie als Frau und eigenständige Persönlichkeit ins rechte Licht rücken.

Hier ist gerade auch das Nachwort sehr interessant, das noch einmal verdeutlicht, dass Tulla Larsen selbst über künstlerische Begabungen verfügte und z.B. Radierungen anfertigte und eben keineswegs die Frau war, die Munch’s Leben zerstören wollte.

Wer in der aktuellen Situation nach Wohlfühllektüre sucht, für den ist „Schatten der Erinnerung“ sicher nicht das Richtige. Wer sich jedoch stark genug fühlt, auch einem schmerzhaften, leidvollen Text standzuhalten, der findet in diesem fordernden Werk zweifelsohne eine intensive Charakterstudie einer Frau in einer dysfunktionalen Beziehung im Schatten einer großen Künstlerpersönlichkeit.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag ebersbach & simon, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Lene Therese Teigen, Schatten der Erinnerung
Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach
ebersbach & simon
ISBN: 978-3-86915-254-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Lene Therese Teigen’s „Schatten der Erinnerung:

Für den Gaumen:
Tulla Larsen’s Vater führte in Kristiania – dem heutige Oslo – einen erfolgreichen Wein- und Spirituosenhandel. Sherry Oloroso und Port stehen auch bei Tochter Tulla hoch im Kurs, nur leider belässt sie es im Roman in der Regel nicht bei einem Gläschen zum Genuss.

Zum Weiterhören:
Tulla spielt gerne Klavier, die Musik scheint ihr gut zu tun:

„Allein am Flügel kann ich mich jetzt noch völlig vergessen und einfach nur sein.“

(S.34)

Besonders gerne spielt sie das Adagio aus Mozart’s Klavierkonzert Nr.23 in A-Dur (KV 488). Ein wunderbares Stück – zum Beispiel in der Aufnahme von Hélène Grimaud.

Zum Weiterschauen:
Auf der Seite des vor kurzem neu eröffneten Munch-Museums in Oslo findet man einige der Gemälde, die Edvard Munch von Tulla Larsen gemalt hat – unter anderem ein schönes Ölgemälde aus den Jahren 1898-1899.
Ein Selbstportrait aus dem Jahr 1905, das Edvard Munch gemeinsam mit Tulla Larsen zeigt, fällt nicht mehr so freundlich aus – und wurde später nach dem Ende der Beziehung sogar vom Künstler in zwei Teile geteilt.

Zum Weiterlesen:
Tulla Larsen war befreundet mit dem norwegischen Dramatiker Gunnar Heiberg (1857-1929) – der bei uns jedoch weitestgehend unbekannt ist und dessen Werke aktuell nicht auf deutsch verlegt werden, sondern nur in Bibliotheken zu finden sind.

„Als sie am 16. Januar 1905 im Nationaltheater die Premiere von „Die Tragödie der Liebe“ besuchte, musste sie allerdings feststellen, dass Gunnar Heiberg sowohl ihr als auch Odas Leben als Material für sein Schauspiel verwendet hatte.“

(S.83)

14 Kommentare zu „Frostiges Feuer

  1. danke dir sehr für diesen interessanten beitrag! ja, die (männlich dominierte) kunst- und kulturgeschichte wimmelt von weiblichen „randfiguren“, begabte, kluge frauen im schatten berühmter männer …

    Gefällt 1 Person

    1. Sehr gerne, Pega. Die Autorin hat das im Roman sehr explizit herausgearbeitet und auch das Nachwort ist da noch zusätzlich erhellend. Sie schreibt darin: „Über 100 Jahre lang ist Tulla Larsen zum Gegenstand von Fiktionalisierung geworden. Sowohl in Edvard Munchs höchst subjektiven, von Frustration geprägten Notizen über sie und ihre Beziehung als auch in der über ihn verfassten Literatur wurde ihr eine Rolle zugeteilt. (…) Wenige haben es als notwendig erachtet zu untersuchen, wer Tulla Larsen wirklich war.“ (S.311/312) – Dass die Autorin das jetzt ändert und Tulla Larsen eine eigene Stimme gibt, macht diesen Roman – auch wenn er wirklich hart und schmerzlich zu lesen ist – aus meiner Sicht wertvoll. Herzliche Grüße!

      Gefällt 1 Person

    1. Danke, Nicole. Ja, wie gesagt keine leichte Kost und nichts zum Wohlfühlen, aber eine wirklich interessante Charakterstudie und ein Roman mit einer wichtigen Aussage. Interessant wie die Autorin diese Frau aus dem großen Schatten der Künstlerpersönlichkeit holt.
      Der Schlink steht auch schon auf meiner „erweiterten“ Merkliste -bin gespannt, wie Dein Fazit ausfällt. Liebe Grüße!

      Gefällt 2 Personen

  2. Die Versuchung, dieses Buch zu lesen ist für mich groß. Steckte ich doch selbst einmal in einer toxischen Beziehung. Mal sehen, ob ich mich überwinden werde. Deine Buchvorstellung macht in jedem Fall neugierig, danke.
    Herzliche Grüße

    Gefällt 1 Person

    1. Das Buch schmerzt beim Lesen – zumindest ging es mir so. Daher ist es schwer, hier einen Rat oder eine Empfehlung zu geben. Das muss man wirklich selbst entscheiden und vermutlich ist es auch von der aktuellen Verfassung oder Tagesform abhängig, wie sehr es einen berührt oder unter die Haut geht. Herzliche Grüße!

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