Urgroßonkel Isidor

Es gibt Geschichten, die das Leben schreibt und Menschen und Schicksale, die sich kein Schriftsteller ausdenkt. Vielmehr hat sich die Journalistin und Autorin Shelly Kupferberg anhand alter Dokumente, mittels Briefen, Fotografien und Archivrecherchen der wahren Geschichte ihrer jüdischen Familie genähert. Entstanden ist dabei ein wunderbares, wichtiges Buch mit ihrem Urgroßonkel Dr. Isidor Geller im Zentrum, den man während der Lektüre ins Herz schließt und nicht mehr vergisst.

„Er war ein Emporkömmling, exzentrisch, ein Parvenü, ein Multimillionär, hier und da ein Hochstapler, ein Mann der Tat und von Welt, er war eigensinnig und voller Stolz.“

(S.9)

Shelly Kupferberg ist 1974 in Tel Aviv geboren und in Westberlin aufgewachsen, sie arbeitet als Journalistin und Moderatorin für Deutschlandfunk Kultur und RBB Kultur. Ihr erstes Buch lässt erahnen, wie weit das familiäre Interesse an Kunst, Theater, Oper und Kultur im Allgemeinen bereits zurückreicht.

„Lediglich was man im Kopf hat, das kann einem keiner nehmen“, pflegte Mutter Batja zu sagen.“

(S.50)

Urgroßonkel Isidor ist eine schillernde, faszinierende Persönlichkeit: Geboren im ostgalizischen Schtetl Tlumacz (das heute zur Westukraine gehört) wuchs er dort gemeinsam mit vier Geschwistern zunächst als Israel – seinen Vornamen sollte er später ändern – in einer jüdisch-orthodoxen Familie auf.

Es herrschen einfache Verhältnisse, doch schon früh wird klar, dass Israel bzw. Isidor ehrgeizig, bildungshungrig und intelligent ist und es ihn – wie auch seine Geschwister – hinaus zieht in die Welt und in die Stadt voller Möglichkeiten: nach Wien.

Isidor arbeitet sich hoch, ist geschäftlich und finanziell äußerst erfolgreich und genießt die vielfältigen kulturellen Möglichkeiten der Großstadt. Er bringt es bis zum Kommerzialrat, ist ein Lebemann, Genießer und Gönner. Zwei Ehen scheitern und er wird Liebhaber einer jungen, bildschönen Sängerin.

„Ein Leben ohne Oper erschien Isidor inzwischen ganz unvorstellbar. (…) Die Sangeslust faszinierte Isidor. Und die Kombination von menschlicher Stimme und großem Orchester, die üppige Ausstattung der Inszenierungen, die Farben und Formen, die Geschichten um die menschlichste aller Regungen, die Liebe, das Beben und feinste Vibrato derjenigen Sänger, die es vermochten das Innerste aus sich herauszusingen – in der Oper erlebte er Momente, die einzigartig waren.“

(S.91)

Er ist Gastgeber rauschender Feste, verkehrt in den höchsten Kreisen der Gesellschaft, schöpft aus dem Vollen, schwelgt in Kultur und vor allem Operngenuss und übersieht die ersten Anzeichen des heraufziehenden Antisemitismus.

„Wenn er wach lag, dachte er über seine unglaubliche Naivität nach. Auch unter seinen Geschäfts- und Handelspartnern, in den Kommissionen hatte er sich die eine oder andere antisemitische Bemerkung anhören müssen. Doch niemals hätte er gedacht, dass jemandem in seiner Stellung, seinem Ansehen, seiner finanziellen Situation das geschehen könnte, was er erlebt hatte. Seinen Glauben an Recht, Ordnung und den eigenen Aufstieg hatte er über alle Warnzeichen gestellt.“

(S.205)

Während sich einige Familienmitglieder um die Flucht bemühen, wird Isidor 1938 nach dem Anschluss Opfer der Nationalsozialisten und stirbt im Alter von nur 52 Jahren – er ist in der jüdischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs begraben.

Shelly Kupferbergs Großvater Walter, der Isidor und seinen glanzvollen Haushalt in seiner Jugend in Wien kennengelernt hatte und dem die Flucht vor den Nationalsozialisten aus der Stadt rechtzeitig gelungen war, kehrt 1956 nach Jahren, in welchen er in Israel eine Familie gegründet hatte, für einen Besuch in seine ehemalige Heimatstadt zurück. Was ist geblieben vom Erbe seines Onkels? Er versucht, Erinnerungen zuzulassen und zu ordnen und anzuknüpfen an die schönen Zeiten seiner Jugend, in welchen er die Museen, die Theater, die Oper und die kulturellen Möglichkeiten Wiens ebenso genoss wie sein Onkel.

Viele Jahre später wird sich die Urgroßnichte Isidors und Enkelin Walters auf Spurensuche begeben und ihren Vorfahren ein literarisches Denkmal setzen.
Shelly Kupferberg hat ein sehr berührendes, liebevolles und absolut lesenswertes Buch geschrieben, in dem sie stets den richtigen Ton getroffen hat.
Ein Buch, das zu Herzen geht und das ich kaum mehr aus der Hand legen wollte – eine lebendige, feine Lektüre, die in mir vieles zum Klingen gebracht hat und dauerhaft in Erinnerung bleiben wird.

„Isidor“ ist bewegend und voller Emotion, es strahlt die Lebensfreude und Tatkraft des Onkels ebenso aus wie die dunklen, tieftraurigen Momente des Verlusts. Kupferberg hat so die Geschichte ihrer jüdischen Familie geschrieben, welche zum einen als Beispiel für so viele andere Schicksale steht und gelesen werden kann und doch zugleich auch der einzigartigen Persönlichkeit ihres Urgroßonkels gerecht wird.

Mit diesem Buch habe ich einen weiteren Punkt meiner „22 für 2022“ erfüllt – Punkt Nummer 8) auf der Liste: Ich möchte ein Buch mit Wien als Schauplatz lesen. Wien ist für mich literarisch und im richtigen Leben immer wieder eine beliebte Anlaufstelle. In „Isidor“ bekommt man einen schönen Eindruck des kulturellen Glanzes, den die Stadt vor 1938 ausstrahlte und auch heute wieder ausstrahlt.

Weitere Besprechungen gibt es bei Feiner reiner Buchstoff und Sandra Falke.

Buchinformation:
Shelly Kupferberg, Isidor: Ein jüdisches Leben
Diogenes
ISBN: 978-3-257-07206-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Shelly Kupferbergs „Isidor: Ein jüdisches Leben“:

Für den Gaumen:
In einer einfachen Gaststätte genießt Isidor jüdische Hausmannskost:

„Der Koch Shmiel Cohen, stand mit hochrotem Kopf im Küchendampf und rührte mit großen hölzernen Löffeln in den Massen von Tscholent – die Spezialität des Hauses. Ein sättigender Schabbateintopf, bestehend aus weißen Bohnen, Suppenfleisch, Kartoffeln, Graupen, Rüben, Zwiebeln, Eiern (…)“

(S.44)

Auf der Homepage des Jüdischen Museums Berlin gibt es ein Rezept für Tscholent.

Zum Weiterhören oder für einen Theaterbesuch:
Kupferbergs Großvater Walter kehrt 1956 in seine ehemalige Heimatstadt Wien auf Besuch zurück und genießt das kulturelle Angebot und ein wenig Operettenseligkeit:

„Gestern waren wir in der Volksoper und sahen eine ausgezeichnete Aufführung der Operette „Der Vogelhändler“ von Carl Zeller. Die alten Schlager gingen ans Herz. Es war ein altes Stück Europa.“

(S.12)

Zum Weiterlesen:
Eines meiner absoluten Lieblingsbücher des vergangenen Jahres war der Roman „Viktor“ (hier geht es zu meiner Rezension) der niederländischen Schriftstellerin Judith Fanto, die ebenfalls auf sehr gelungene Weise eine jüdische Familiengeschichte literarisch verarbeitet und einen interessanten Charakter als Hauptfigur besitzt – und auch hier spielen Teile der Handlung in Wien.

Judith Fanto, Viktor
Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
Urachhaus
ISBN: 978-3-8251-5257-4

7 Kommentare zu „Urgroßonkel Isidor

  1. Wirklich schöne, bewegende Besprechung! Ich werde mal in das Buch hineinschauen. Über dieses Thema kann es gar nicht genug Bücher geben. Wien mag ich auch sehr – für mich wird es aber immer die Stadt von Ulrich aus „Mann ohne Eigenschaften“ bleiben. Irgendwie ist diese Stadt mit diesem Buch für mich zusammengewachsen. Ein schönes Wochenende!!

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    1. Dankeschön, Alexander. Da kann ich Dir nur zustimmen, dass es über dieses Thema gar nicht genug Bücher geben kann.
      Musils Roman ist selbstverständlich ein anderes Kaliber (schon allein aufgrund des Umfangs – „Isidor“ umfasst gerade mal zarte 256 Seiten).
      Kupferbergs „Isidor“ trägt mit Sicherheit bewusst auch nicht die Bezeichnung Roman, es ist stilistisch wirklich mehr eine Lebens- und Familiengeschichte bzw. Biografie, die sich jedoch ebenfalls sehr gut liest. Dir auch ein wunderbares Wochenende mit guter Lektüre!

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  2. Wie schön, bei dir immer wieder auf Bücher aufmerksam gemacht zu werden, die sonst ganz an mir vorbeigegangen wären! Bin gerade wieder in einer meiner Buchkaufstoppphasen, mal sehen, wie lange 🙂 LG Anna

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    1. Das freut mich, auch wenn ich Deine guten Vorsätze natürlich nicht torpedieren möchte. 😉 Während der Buchkaufstoppphasen hilft dann wohl nur die Wunschliste ab und an zu verlängern… das Schöne an Büchern ist ja, dass sie nicht verderblich sind und gegebenenfalls auch mal eine Weile geduldig (ob gedanklich auf der Merkliste oder physisch im Regal 😉 ) warten können. 🙂 LG, Barbara

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