Steinerne Schönheit

Madeline Miller hat sich in den letzten Jahren nicht nur auf die Beststellerlisten, sondern auch in die Herzen ihrer wachsenden Fangemeinde geschrieben. Jetzt erscheint als besonders Schmuckstück und in einer zauberhaften Aufmachung ein ungewöhnliches Kleinod aus ihrem Schaffen: ihre kurze Erzählung „Galatea“, die 2013 im Original als E-Book erschienen war und jetzt erstmalig in der deutschen Übersetzung von Ursula C. Sturm als gebundene und illustrierte Ausgabe vorliegt.

„Weißt du, was mir guttäte? Ein Spaziergang.“
„Oh nein“, erwiderte sie. „Erst, wenn es dir besser geht. Deine Hände sind eiskalt.“
„Ja, weil ich wie gesagt früher aus Stein war“, sagte ich. „Ohne Sonne wird mir nicht warm. Hast du noch nie eine Statue berührt?“

(S.15/16)

Galatea wird als Gefangene in einer Klinik auf einem zyprischen Felsen festgehalten. Die Ärzte und Schwestern schotten sie von der Außenwelt ab – lediglich ihr Mann und Schöpfer kommt sie von Zeit zu Zeit besuchen: Pygmalion, der Bildhauer, der sie als Steinskulptur als Abbild der perfekten Frau erschaffen hat, der mit Hilfe der Götter Leben eingehaucht wurde. Weggesperrt in ihrem Gefängnis und gefangen in ihrem kalten, steinernen Körper ist sie seinen Übergriffigkeiten hilflos ausgesetzt. Sie leidet unter der Trennung von ihrer geliebten Tochter Paphos, der sie ein ähnliches Schicksal unbedingt ersparen möchte, und sinnt nach einem Ausweg aus ihrer unglücklichen Situation und ihrer Unfreiheit.

„Mir war von Anfang an klar, dass sich Galatea nicht wie Circe und Achill in einem rein mythologischen Kosmos bewegen würde. Sie bedurfte einer ganz eigenen Welt, und bei der Erschaffung dieser Welt ließ ich mich zum einen von vielen Werken feministischer Literatur inspirieren, zum anderen von Ovid selbst, der es liebte, Grenzen zu überschreiten und Genres zu vermischen.“

(aus Madeline Millers Vorwort zu Galatea, S.9)

Grundlage für Millers „Galatea“ war ein Stoff aus Ovids Metamorphosen, der bis heute in vielen künstlerischen Werken, in bildender Kunst, in Musik, Theater, Oper aber auch im Film Niederschlag gefunden hat: die Geschichte des Bildhauers Pygmalion, der sich aus Ablehnung der Frauen um ihn herum, seine ideale Frau aus Stein selbst erschafft. Ein Mythos, der Miller nicht zu einer romantischen Adaption inspirierte, sondern vielmehr dazu anregte, die für sie vorherrschenden frauenfeindlichen Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Erzählung zu stellen, wie sie auch in ihrem Vorwort erläutert.

„Galatea“ ist in vielerlei Hinsicht überraschend und ungewöhnlich und fällt ein wenig aus dem üblichen, bisher gewohnten Rahmen der Werke Millers: nicht nur durch die kurze literarische Form der Erzählung, sondern auch durch den freieren, kreativen Umgang der Autorin mit dem mythologischen Stoff. Denn im Vergleich zu ihren Romanen „Das Lied des Achilles“ oder „Ich bin Circe“ bewegt sie sich hier weiter weg von der Originalvorlage, spinnt gedanklich und inhaltlich die Handlung selbst fort, setzt eigene, andere, vor allem feministische Akzente.

Inhaltlich wird die kurze Erzählung in der deutsche Ausgabe abgerundet und eingerahmt von einem Vorwort der Autorin, der Originalpassage zu „Pygmalion“ aus Ovids Metamorphosen in der Übersetzung von Niklas Holzberg und einem einordnenden Nachwort des Philologen Andreas Knabl.

Der Eisele Verlag hat diesem in vielerlei Hinsicht besonderen Werk der Erfolgsautorin Madeline Miller auch besonders viel liebevolle Zuwendung in der optischen Gestaltung und Aufmachung des Buches angedeihen lassen. Das golden schimmernde Umschlagbild und vor allem die ausdrucks- und farbstarken Illustrationen von Thomke Meyer – einer Hamburger Illustratorin, die unter anderem auch für die ZEIT arbeitet – lassen das Buch auch zu einem visuellen und inspirierenden Lesegenuss werden. Das vorherrschende Blau der im Buch enthaltenen Bilder lässt die Kälte der Steinskulptur Galatea nochmal besonders deutlich werden.

„Galatea“ ist durch seine kompakte, kurze Form ein Werk, das man durchaus häufiger lesen und zur Hand nehmen kann. Aufgrund der konzentrierten, verdichteten Handlung und der damit einhergehenden Intensität wird man gerade zwischen den Zeilen bei wiederholter Lektüre sicher immer wieder neue Aspekte entdecken und herausdestillieren können.

Ein feines, schmales Bändchen, das für Fans von mythologischen Stoffen – und natürlich von Madeline Miller – im Regal nicht fehlen darf und das als kunst- und liebevolles, optisches Schmuckstück in punkto Buchgestaltung einen besonderen, goldenen Glanz ausstrahlt.

Mit diesem Buch habe ich einen weiteren Punkt meiner „22 für 2022“ erfüllt – Punkt Nummer 20) auf der Liste: Ich möchte ein überraschendes Buch lesen. Überraschend war Madeline Millers „Galatea“ gleich in mehrerlei Hinsicht: durch die kurze Form der Erzählung (im Gegensatz zu ihren eher umfangreichen Romanen), durch die liebevolle, aufwändige Gestaltung und Illustration und aufgrund des freien, spielerischen Umgangs mit dem mythologischen Stoff.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eisele Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Madeline Miller, Galatea
Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula C. Sturm
Illustriert von Thomke Meyer
Eisele Verlag
ISBN: 978-3-96161-141-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Madeline Millers „Galatea“:

Für den Gaumen:
Kulinarisch bekommt Galatea in ihrem Gefängnis über dem Meer außer einem Tee, der nichts Gutes verheißt und ihr stets schadet, keinerlei Genüsse zugestanden.

Zum Weiterschauen:
Ein besonderes Glanzlicht der Schmuckausgabe sind die feinen, expressiven Illustrationen der Hamburger Künstlerin Thomke Meyer. Es lohnt sich, sich auf ihrer Website einen ersten Eindruck in ihr Werk – in ihre Formen- und Farbensprache – zu verschaffen.

Für einen Theater- oder Musicalbesuch:
Die wohl berühmteste Adaption des Stoffes ist bis heute das Musical „My Fair Lady“ mit der Musik von Frederick Loewe, welches bereits eine erste Adaption des Theaterstücks „Pygmalion“ von Bernard Shaw darstellt. Letzteres bildete auch die Inspiration für Willy Russells Komödie „Educating Rita“.

Zum Weiterhören oder für einen Theater- oder Operettenbesuch:
Auch eine weitere vertonte Variante bzw. Operette geht auf diesen Stoff zurück: Franz von Suppés „Die schöne Galathée“, die 1865 in Berlin uraufgeführt wurde.
Besonders bekannt ist die Ouvertüre, in der auch der Walzer enthalten ist, der später als Titelmelodie der Serie Kir Royal bekannt wurde.

Zum Weiterlesen (I):
Aus der Schulzeit bekannt und in den Deckengemälden der Landshuter Stadtresidenz präsent, sind Ovids „Metamorphosen“:

Ovid, Metamorphosen
Übersetzt, kommentiert und mit Nachwort von Michael von Albrecht
Reclam
ISBN: 978-3-15-020637-9

Zum Weiterlesen (II):
Bekannt wurde Madeline Miller einer breiten Leserschaft bislang vor allem durch ihre mythologischen Romane „Das Lied des Achilles“ und „Ich bin Circe“. Letzteren habe ich hier auf der Kulturbowle ebenfalls bereits vorgestellt:

Madeline Miller, Ich bin Circe
Aus dem Amerikanischen Englisch von Frauke Brodd
Eisele
ISBN: 978-3-96161-095-2

5 Kommentare zu „Steinerne Schönheit

    1. Gern geschehen – ein wirklich schönes Buch, aber sie wird es binnen kürzester Zeit ausgelesen haben… die Autorin bezeichnet es aufgrund der Kürze in ihrem Vorwort selbst als „Amuse gueule“… ein Häppchen. Wenn es noch für den ersten Weihnachtsfeiertag reichen soll, dann wäre gegebenenfalls auch „Ich bin Circe“ eine schöne Option 😉 Herzliche Grüße nach Italien! Barbara

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      1. Ah, okay. Ja, dann musst Du vorsichtshalber erst nochmal ein wenig Detektiv spielen. 🙂 Es gibt von der Autorin auch noch „Das Lied des Achilles“, das habe ich aber selbst noch nicht gelesen und kann daher (noch) nichts dazu sagen. Buona serata und alles Liebe! Barbara

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