„Und jetzt ist Schluss“ – Christine Lehmann lässt in ihrem gerade neu erschienenen Roman die soeben verstorbene Ruth Winkler vom Totenbett aus ihre fiktive Lebensgeschichte erzählen. 1930 in Halle geboren erlebt sie Krieg, Flucht und später durch die Mauer von ihrer Familie getrennt in Westdeutschland die Nachkriegszeit.
Ruth Winklers Lebenserzählung steht stellvertretend für die Geschichte vieler deutscher Frauen. Sie erzählt aus der Ich-Perspektive ihre eigene, zutiefst persönliche Geschichte mit allen Höhen und Tiefen und spannt den Bogen von ihrer eigenen Kindheit und Jugend über alle wichtigen Stationen ihres Lebens bis hin zu ihrem Tod.
„Interessant war er durchaus. Er war in Indien geboren, hatte ein Semester in Edinburgh studiert, einmal Ferien auf Schloss Lüttich-Bärenstein gemacht, ein Grab geplündert und einen Totenschädel besessen, bei einer Radtour mit seinem Freund Lux im Erzgebirge für unerhörte 10 Mark ein Aquarell gekauft, das bei ihm in der Bude hing, er kannte London und Amsterdam, hatte viel gelesen, wirkte weltgewandt, erzählte gern und sehr witzig und schrieb jeden Abend Tagebuch, das war ihm heilig. Wir hatten bald einen vertrauteren Umgang miteinander und duzten uns und ich lud ihn Sonntagnachmittag zu Kartoffeln und Quark in meine Bude ein. Wir diskutierten über den subjektiven Realismus Fichtes. Da war ich vielleicht schon etwas verliebt.“
(S.74)
Durch ihren Ehemann Markus verschlägt es sie in den Westen und beide leiden unter der Trennung von Eltern, Geschwistern und Verwandtschaft.
Sie müssen ihr Leben – als junge Eltern und kleine Familie – alleine meistern. Ruth kümmert sich um die Kinder, ist viel allein und steckt ihre eigenen Bedürfnisse zurück – erst spät wird sie sich noch den lange gehegten Traum vom Studium erfüllen.
Das Verhältnis zu den Familienmitgliedern jenseits der Mauer wird zunehmend schwieriger und ist oft geprägt von Missverständnissen, Verletzungen und Meinungsverschiedenheiten. Die Grenze, welche nur schwer und für seltene Anlässe zu überwinden ist, spaltet die Familie mehr und mehr.
Das Personenregister, das dem über 500 Seiten starken Roman dankenswerterweise vorangestellt ist, erweist sich gerade zu Beginn der Lektüre als hilfreich. So kommt man als LeserIn schnell in die Verästelungen des Stammbaums der Familie Winkler hinein.
Detailreich und mit vielen kleinen Szenen, Erinnerungsfetzen und Anekdoten lässt Lehmann ihre Hauptfigur ein ganzes Leben und Familienleben erzählen – eine Lebenserinnerung, die zwischen vermeintlich Banalem und Alltäglichem immer wieder entscheidende Momente aufblitzen lässt. So entsteht ein lebensechtes Porträt einer Frau, die zwischen Einkaufslisten, Kochplänen, Kinderkrankheiten und Alltagssorgen auch immer wieder Augenblicke großen Glücks und großen Leids erlebt.
„Das Gefühl des Glücklichseins ist ja nichts, was permanent da ist, sondern es sind Höhepunkte im Leben.“
(S.125)
Zwischendrin tauchen im Erinnerungsstrom auch entscheidende, prägende Ereignisse der deutschen Nachkriegsgeschichte auf: der Aufstand vom 17. Juni 1953 , der Mauerbau, die Hamburger Sturmflut oder Willy Brandts Kniefall in Warschau. So werden Geschichte und Weltgeschehen leise, unaufdringlich und nahezu beiläufig mit erzählt.
Großes Thema des Romans ist die Trennung von der Familie, die im Osten zurückgeblieben ist. Sehr eindringlich wird geschildert, wie aufgrund von Wunschlisten unzählige Pakete gepackt und geschickt werden, wie aufwändig und langwierig die Einreisemodalitäten und die Planung eines Familienbesuchs waren und wie oft bei entscheidenden Momenten wie Hochzeiten, Taufen, runden Geburtstagen, Ehejubiläen oder Beerdigungen die Familie doch nicht zusammen sein konnte.
„Es ist ja immer wieder schrecklich, was für einen Umstand man machen muss, um sich zu besuchen, was sonst mal ein schneller Entschluss am Wochenende wäre, dauert hier Wochen mit dem Aufwand einer Weltreise.“
(S.393)
Die deutsch-deutsche Grenze befeuert innerhalb der Familie Winkler zusätzliche Differenzen und Konflikte. Immer wieder kommt es aufgrund mangelnden Verständnisses für die Lebensumstände des jeweils Anderen zu Familienzwistigkeiten bis hin zu Erbstreitigkeiten.
Und so wird auch viel gestritten in Lehmanns Roman und zahlreiche vorwurfsvolle und schmerzhafte Briefe wechseln die Seiten – die Familienmitglieder schenken sich wenig und scheuen kaum eine Konfrontation. Zahlreiche Streitgespräche werden – sicherlich auch der innerdeutschen Grenze geschuldet – schriftlich ausgetragen.
Lehmanns Roman ist das umfassende Porträt einer Familie, welche jahrzehntelang durch die innerdeutsche Grenze getrennt, auf Distanz gehalten und zunehmend entfremdet wurde und zugleich ist es ein Zeitengemälde der deutschen Geschichte, berichtet von wirtschaftlichem Aufschwung, gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Diskursen.
So manche deutsch-deutsche Familie könnte wohl ähnliche Geschichten erzählen, doch bleibt zu hoffen, dass es häufiger gelingt, entstandene Gräben zu überbrücken und innerfamiliäre Mauern einzureißen.
Lehmann thematisiert die Schwierigkeiten, Sorgen und Nöte einer ganzen Generation jenseits und diesseits der innerdeutschen Grenze offen, direkt und ohne zu beschönigen. Und sie schildert gleichsam die Lebensgeschichte einer Frau Jahrgang 1930, die Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt gewährt und stellvertretend für die Frauen ihrer Zeit von Kindheit und Jugend, Verlieben und Lieben, Ehe und Mutterschaft sowie dem Zwiespalt zwischen Familie, Beruf und persönlichen Ambitionen erzählt. Ein profunder Roman, dem es so gelingt, im Kleinen für das große Ganze zu stehen.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kröner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Christine Lehmann, Und jetzt ist Schluss
Kröner Verlag
ISBN: 978-3-520-76701-1
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Christine Lehmanns „Und jetzt ist Schluss“:
Für den Gaumen (I):
Auch kulinarisch tut sich so mancher Graben auf, was jedoch zum Beispiel bei „Hefepaste mit Rauchfleischgeschmack, ein(em) Produkt der Chemiewerke Leuna“ (S.63) vielleicht auch wenig verwunderlich ist.
Für den Gaumen (II):
Und auch das Traditionsgericht „Himmel und Erde“, das aus Kartoffelpüree und Apfelmus bzw. Apfelstücken besteht und oft mit Blutwurst serviert wird, trägt nicht unbedingt zum Familienfrieden bei:
„Hanna behauptet, als ich einmal Markus zuliebe Himmel und Erde gemacht hätte, habe das beinahe zur Scheidung geführt, weil es Markus zu sauer gewesen sei. Seine Mutter hatte wahrscheinlich immer Zucker daran getan, was ich widerlich finde.“
(S.254)
Zum Weiterlesen:
Als Weihnachtsstück besucht Ruth mit ihren Kindern ein Märchen der Gebrüder Grimm, das ich bisher nicht kannte, das jedoch in der Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ enthalten ist – da sollte ich vielleicht mal nachlesen:
„Am ersten Weihnachtsfeiertag ging ich mit den Kindern ins Staatstheater ins Weihnachtsmärchen Allerleirauh“
(S.242)
Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen
Reclam
ISBN: 978-3-15-030048-0
Liebe Barbara,
solche deutsch-deutschen Familiengeschichten brauchen wir, vielen Dank für Deine Vorstellung.
Das Eingangszitat führt zu einer Verliebtheit. Wie kam es zur Rede von Fichtes „subjektivem Realismus“? Den alten Fichte kannte ich bisher allenfalls als „subjektiven Idealisten“.
Damals zuhause mochte ich gerne „Himmel und Erde“. Sich darüber zerstreiten?
Hm, bin gespannt, wie Du „Allerleirauh“ liest und beschreibst.
Schönen Herbstsonntag
herzlich Bernd
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Lieber Bernd,
Sehr gern geschehen. Ich fand, dass die Schilderung im ersten Zitat den Stil und Klang des Romans ganz gut einfängt. Viele kleine Teile ergeben am Ende ein Ganzes. Die Autorin selbst schreibt in meinen Augen eindeutig mehr realistisch als idealistisch, ob sich das hinter ihrem Zitat verbirgt? Da kann ich nur mutmaßen. Das Märchen der Grimms steht auf meinem Plan und ich wünsche Dir ebenso einen wunderbaren und märchenhaften Herbstsonntag! Barbara
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Danke für Deine sorgfältige Darstellung
Egal ob Krimi, Drehorte, Filma das Thema ist allgegenwärtig . Fazit: Die Menschen waren eigentlich politisch, faktisch nicht reif für die „Wiedervereinigung“
Die zahlreichen Erlebnisse, Leiden, Freuden sind sicher ein Deutschland noch lange Präsenz.
Ob der Roman letztlich lesenswert ist
mag dahingestellt sein
Lg Meggie
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Gern geschehen, Meggie.
Jede Zeit hat ihre Geschichten und ich finde es gut, dass jetzt auch die deutsch-deutsche Geschichte vermehrt Einzug in Literatur, Kunst und Film findet. Ich persönlich empfinde es immer bereichernd, unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven gerade in der Literatur zu entdecken und so auch andere Zugänge zu den geschichtlichen Themen zu bekommen. Herzliche Herbstsonntagsgrüße nach München! Barbara
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