Sommer auf dem Land

Wenn ich so auf meinen Zeitstrahl der Kulturbowle schaue, klafft in einem Jahrzehnt noch ein komplettes Loch – und zwar habe ich bislang in den letzten gut zwei Jahren noch kein einziges Buch aus den Achtzigern hier auf dem Blog vorgestellt. Höchste Zeit, das zu ändern und ich habe ein kleines, feines Buch ausgewählt, um diese Lücke endlich zu füllen: J.L. Carrs zauberhafter Roman „Ein Monat auf dem Land“ aus dem Jahr 1980. Sicherlich kein Geheimtip mehr, denn schließlich war er nicht nur 1980 für den Booker Preis nominiert, sondern stand 2016, als er zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschien, auch auf der Bestsellerliste, doch in jedem Fall ein Buch, das ich wärmsten Herzens empfehlen möchte.

„Aber eines ist sicher – ich war beseelt vom Gefühl unendlicher Zufriedenheit und wünschte, sofern ich überhaupt etwas dachte, dass es immer so bliebe, dass niemand wegginge, niemand Neues käme, Herbst und Winter sich ganz viel Zeit ließen, das Reifen des Sommers für immer andauerte, nichts den gleichmäßigen Lauf meiner Tage störte (…)“

(S.74)

Tom Birkin ist Restaurator und Kriegsversehrter. Der erste Weltkrieg hat tiefe Spuren an Körper und Seele hinterlassen, er hat als Soldat schwere Traumata davongetragen und stottert. 1920 bekommt er einen Auftrag im ländlichen Yorkshire, dort soll er im abgelegenen, pittoresken Dorf Oxgodby ein mittelalterliches Fresko in der Kirche restaurieren. Von diesem Auftrag erhofft er sich einen heilsamen, ruhigen Sommer auf dem Land fernab vom Trubel der Stadt und seinen Sorgen, um wieder zu sich und zur Ruhe zu kommen.

„Bei meiner Tätigkeit hilft es, wenn man die Kerzen riechen kann, wenn man weiß, wie sie bei Zugluft tropfen, dass sie angezündet wurden, um Erleichterung für die Seelen der Verstorbenen im Fegefeuer zu erbitten, wenn man sehen kann, wie ihr Rauch zwischen den Bildern emporwabert, zwischen den Arkaden hindurchweht, wie sich der Ruß auf Konsolen und Schlusssteinen niederlässt und den Stein schwärzt, hoch oben, wo die Putzfrauen ihn nicht erreichen können.“

(S.80)

Sein Leben und Alltag im Dorf ist einfach. Er bezieht sein Quartier und widmet sich seinem Restaurationsauftrag in der Kirche. Das ruhige, gleichmäßige Arbeiten, die Stille und die erforderliche Konzentration beim Reinigen des Gemäldes tun ihm gut. Nach und nach wird auch die Dorfgemeinschaft neugierig und sucht den Kontakt zu dem Neuankömmling, lädt ein zu gemeinsamen Mahlzeiten und Unternehmungen.

„Nichts ist so geheimnisvoll wie das, was einen Mann und eine Frau verbindet.“

(S.113)

Schließlich begegnet er einer Frau, die für ihn so schön ist wie die Frauen auf Botticellis berühmtem Gemälde Primavera und die Zeit auf dem Land gibt seinem Leben neue Impulse und eine entscheidende Wendung.

„Ich hatte genügend Gemälde in meinem Leben gesehen, um wahre Schönheit zu erkennen, aber niemals hätte ich damit gerechnet, ihr an diesem abgelegenen Ort zu begegnen.“

(S.53)

J.L. Carr ist das literarische Kunstwerk gelungen, ein ruhiges und tiefgründiges Buch zu schreiben, das auf faszinierende Weise Schicht für Schicht das Innerste seiner Hauptfigur freilegt und tief in die Seele blicken lässt, so wie die Hauptfigur Tom Birkin nach und nach das Kirchengemälde vom Ruß der Vergangenheit befreit und die Schönheit wieder zum Vorschein bringt.
Er schildert sowohl die Schrecken und verheerenden Folgen des Krieges, aber vor allem auch, dass und wie diese überwunden werden können.

„Ach, was für eine Zeit … Noch viele Jahre danach suchte mich das Glück jener Tage heim. Manchmal, wenn ich Musik höre, lasse ich mich dorthin zurücktreiben, und nichts hat sich verändert. Dieser lange Sommerausklang. Tag für Tag warmes Wetter, die Stimmen in der Nacht, die erleuchteten Fenster in der Dunkelheit und, bei Tagesanbruch, das sanfte Wogen des Getreides und der warme Geruch der erntereifen Felder. Und jung zu sein.“

(S.120/121)

Die Stimmung des Werks und die Sprache J.L. Carrs ist wahrer Genuss und hat mich vollkommen begeistert. Dieser wundervolle Roman ist poetisch, zutiefst menschlich und erzählt vom beseelenden Glück des Sommers, davon sich zu Öffnen, Zutrauen und Vertrauen zu fassen, von Gemeinschaft und Liebe und davon, im richtigen Moment die Chancen, die sich bieten, beim Schopf zu packen.

Warum ich die Gelegenheit, dieses Buch zu lesen, erst jetzt ergriffen habe? Keine Ahnung, denn ich hatte es immer wieder mal auf dem Plan und dann kam doch stets Anderes bzw. andere Lektüre dazwischen. Vielleicht hat es aber gerade jetzt in diesen turbulenten Zeiten seinen ganz besonderen Zauber noch intensiver entfalten können.
Denn für mich war „Ein Monat auf dem Land“ eine herrlich wohltuende und entschleunigende Lektüre, die hoffnungsvoll stimmt und einen – trotz vieler negativer Nachrichten in der Welt – auch weiterhin an das Gute im Menschen glauben lässt.

Ein leises, stilles Buch, das auf sehr liebenswürdige Art ein wenig altmodisch anmutet und aus der Zeit gefallen wirkt und doch vermutlich genau deshalb zu einem zeitlosen Klassiker werden wird, der 1980 die Herzen der Leserschaft genauso berührte, wie heute oder in vielen Jahren. Denn Lesestoff, der einen zur Ruhe kommen lässt und etwas Balsam für die Seele spenden kann, wird immer gebraucht werden. Ein literarisches Kleinod, das sich lohnt, entdeckt zu werden, soweit noch nicht geschehen.

Weitere Besprechungen gibt es unter anderem bei Annas buchpost, Bingereader, Astrolibrium oder Bücherkaffee.

Buchinformation:
J.L. Carr, Ein Monat auf dem Land
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Dumont
ISBN: 978-3-8321-9835-0

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich J.L.Carrs „Ein Monat auf dem Land“:

Für den Gaumen:
Freundlicherweise werden Tom Birkin in der Kirche so manche Grüße aus der Küche vorbeigebracht:

„(…) jedenfalls schickte sie mir jedes Mal einen Happen von dem, was in ihrer Küche gerade hervorgebracht worden war – Hasenpastete, ein paar Scheiben Johannisbeer-Teekuchen, zwei, drei Quarktörtchen

(S.50)

An anderen Tagen gibt es aber auch nur „zwei dicke Scheiben Brot (…) und dazu ein Stück Wensleydale-Käse“ (S.52).

Zum Weiterhören:
Musikalisch steht vor allem kirchliches bzw. spirituelles Repertoire im Mittelpunkt dieser Lektüre. Auf dem Grammofon werden dem Restaurator zur Unterhaltung in der Kirche „Geistliche Lieder und Arien“ (S.49) vorgespielt: z.B. „Angels ever bright and fair“ aus Georg Friedrich Händels Oper Theodora.

Zum Weiterlesen:
Durch das Buch wurde ich auf einen britischen Dichter des viktorianischen Zeitalters aufmerksam: Alfred Lord Tennyson (1809 – 1892). Für Lyrikfans lohnt es sich, mal ein wenig in sein Werk hineinzuschmökern.

„Das Wetter war wie in einem Gedicht von Tennyson, schläfrig, warm, unnatürlich ruhig.“

(S.104)

11 Kommentare zu „Sommer auf dem Land

    1. Sehr gern geschehen, Anna. Im nach hinein betrachtet hätte ich es durchaus auch früher lesen können, aber auch hier kam so manch andere Lektüre bzw. so mancher Stapel dazwischen. Aus den niederbayrischen Buchstapeln heraus sende ich ganz herzlich schöne Wochenendgrüße und wünsche Dir auch einen schönen Sonntag mit dem richtigen Händchen, das passende Buch aus dem Stapel bzw. den Stapeln zu ziehen! Barbara

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    1. Das stimmt und auf diese Weise auch ein schöner Beweis, was Literatur in manchen Situationen vermag. Wenn es einem Autor (oder einer Autorin) gelingt, ein Werk zu schaffen, das auch nach 42 Jahren noch Menschen Zuversicht vermitteln kann, ist das in meinen Augen einfach wunderbar. Herzliche Grüße!

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  1. Ich habe es sofort auf meine Liste gesetzt. Ich mag es, wenn die Zeit beim Lesen länger wird, alles breiter und offener und freundlicher. Die Sprache lässt ja alle Zeit der Welt gegen, wie ich bei dir gelernt habe, marode Launen. Viele Grüße!!

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    1. Das freut mich, wenn ich Dein Interesse geweckt habe. Ich mochte es wirklich sehr, ein sprachlich schönes und für mein Empfinden sehr wohltuendes Buch, das einen nochmal den Sommer nachspüren lässt. Viel Freude und Genuss beim Lesen! Herzliche Grüße und einen schönen Sonntag!

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  2. Danke für die Verlinkung. Denke immer noch gerne an dieses Buch. Das sollte man bei hohem Blutdruck oder so verschrieben bekommen. Es beruhigt ungemein, insbesondere wenn man bei der Lektüre Händel hört. Ein Sommer Buch das ich sicherlich irgendwann noch einmal lese 🙂

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    1. Gerne, das Verlinken war mir eine Freude. Ja, ich finde auch, dass es ein Buch ist, das einfach gut tut – klein, aber fein und mit Sicherheit eins, das man auch bei wiederholtem Lesen gerne und mit Genuss liest. Herzliche Grüße!

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