La vie – literarisch

Annie Ernaux ist die siebzehnte Frau, die den Literaturnobelpreis erhalten wird. Die Preisverleihung wird – traditionell am Todestag von Alfred Nobel – am 10. Dezember stattfinden. An diesem Tag wird sie ihrem Leben, das die Grundlage für ihre meist autobiografischen Bücher bildet, ein weiteres entscheidendes Kapitel hinzufügen. Ihr Werk „Die Jahre“ erschien bereits 2008 – und auch in ihm sind die charakteristischen Merkmale enthalten, welche das Nobelkomitee in der Begründung für die Verleihung des Preises wie folgt anführte, und zwar „ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt.“

„Aus der Mode gekommene Redewendungen, die man eines Tages zufällig wieder hört, kostbar wie ein verlorener und wiedergefundener Gegenstand, und von denen man sich fragt, wie sie die Zeit überdauert haben“

(S.14)

Annie Ernaux erzählt basierend auf Fotografien, die sie zeigen und die sie beschreibt, anhand von Erinnerungsstücken, Gedankensplittern und Redewendungen autobiografisch ihre eigene Lebensgeschichte.
Gerade zu Beginn des Buches reiht sie solche kurzen Erinnerungsschnipsel, Zitate und Gedanken aneinander, oft ohne Satzzeichen – gleichsam eine Sammlung von Momentaufnahmen, Erinnerungsfetzen und Gedanken, die vorbeifliegen.
Nach und nach geht sie mehr und mehr ins Erzählen über – sie erzählt von den Auswirkungen des Krieges und aus ihrer Kindheit während der Nachkriegszeit in Frankreich – von den einfachen, oft harten Verhältnissen, vom Hunger und der hohen Kindersterblichkeit.

„Mit den Gedanken und Gefühlen, die auf die dunkelhaarige Vierzehneinhalbjährige mit Brille eindringen, findet das Schreiben hier etwas wieder, was es im Hinblick auf die Fünfzigerjahre nicht zu erfassen vermochte, kann es einfangen, welches Bild die kollektive Geschichte auf die Leinwand des individuellen Gedächtnisses projiziert hat.“

(S.54)

Berührend fand ich die Szenen, in welchen sie als Kind gebannt den Erzählungen und Erinnerungen der Erwachsenen lauscht – sich versteckt, um nicht ins Bett zu müssen. Es scheinen wohl diese Geschichten und Zeitzeugnisse zu sein, die sie schon früh faszinieren und diese Art aus dem Leben zu erzählen, die sie später selbst in ihren Werken perfektionieren wird.

„Zum Dessert kehrten wir kleinen Menschen an den Tisch zurück und hörten den schmutzigen Witzen zu, die die Erwachsenen zu dieser späten Stunde erzählten, wenn sie die jungen Ohren vergaßen, den Liedern aus ihrer Jugend, über Paris und die Gosse, leichte Mädchen und Schieber aus den Vororten (…)“

(S.28)

Die Jahre vergehen und es wird weiter Geschichte geschrieben: der Algerienkrieg, die Studentenbewegung der 68er, AIDS, technologischer Fortschritt, wirtschaftlicher Aufschwung – Annie Ernaux beschreibt nicht nur ihren persönlichen Lebensweg, sondern auch die prägenden, zeitgeschichtlichen Ereignisse um sie herum. Sie erinnert sich an Lektüren, Musiktitel ebenso wie an Film- und Fernsehereignisse und fächert so ein buntes Kaleidoskop der Zeit- und Kulturgeschichte ihres Heimatlandes auf.

Sprache und Stil sind kristallklar und immer auf den Punkt, was die Lektüre zu einer genussvollen und faszinierenden Erfahrung macht. Oft sind es kleine Szenen und Beobachtungen, die gerade weil sie fein beschrieben sind, doch so viel aussagen. Zahlreiche Sätze sind so treffend, zielsicher und ausdrucksstark formuliert, dass man sich am liebsten jede Menge Zitate herausschreiben, dauerhaft notieren und merken möchte.

„Die Jahre“ ist eine intensive Lektüre, die zwar stellenweise etwas Konzentration erfordert, aber dafür ungeheuer reich und bereichernd ist an zeitgeschichtlichen und kulturellen Querbezügen. Ernaux – geboren 1940 in Lillebonne in der Normandie – nimmt ihre Leserschaft mit auf eine eindrucksvolle, sehr persönlich geprägte und geschilderte Zeitreise durch die französische Geschichte.

„Ob man beim Kaufen nun Lust und Leichtigkeit empfand oder Gereiztheit und Erschöpfung, eins war sicher, der Anziehungskraft der Dinge – die schnell ‚unverzichtbar‘ wurden – entkam man immer weniger.“

(S.194)

Zudem hält Ernaux auch mit ihrer Kritik an manchen aktuellen Entwicklungen in der Gesellschaft nicht hinter dem Berg. Sie übt unverhohlen Konsumkritik und äußert sich zu politischen Verhältnissen und Strömungen.

„Der Überfluss an Dingen verbarg den Mangel an Ideen und die Abnutzung der Überzeugungen.“

(S.93)

Es gibt das berühmte Zitat des US-amerikanischen Politikers Adlai Ewing Stevenson: „Nicht die Jahre in unserem Leben zählen, sondern das Leben in unseren Jahren.“ Und davon steckt wahrlich sehr viel in diesem Buch: Denn Annie Ernaux blickt in „Die Jahre“ auf gerade mal 256 Seiten zurück auf ein reiches Leben, welches als exemplarisches Zeitzeugnis und Lebensgeschichte einer ganzen Generation von Frauen gelesen und verstanden werden kann.
Eine spannende und interessante erste Leseerfahrung und Begegnung mit Annie Ernaux, die inhaltlich und stilistisch durchaus meine Neugier auf weitere Werke der Literaturnobelpreisträgerin wecken konnte.

Weitere Besprechungen gibt es bei Poesierausch und Literaturleuchtet.

Mit diesem Buch habe ich einen weiteren Punkt meiner „22 für 2022“ erfüllt – Punkt Nummer 16) auf der Liste: Ich möchte ein Buch einer Literaturnobelpreisträgerin lesen. Eigentlich hatte ich zu Beginn des Jahres ganz andere Autorinnen im Kopf, doch jetzt hat mich das Nobelkomitee aktuell neu inspiriert – zumal ich Annie Ernaux schon länger auf meiner Leseliste hatte, habe ich die Gelegenheit jetzt beim Schopf gepackt.

Buchinformation:
Annie Ernaux, Die Jahre
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Taschenbuch
ISBN: 978-3-518-46968-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Annie Ernaux’s „Die Jahre“:

Für den Gaumen:
Auch an der Art der Lebensmittel und der zubereiteten Mahlzeiten lassen sich die Moden und Veränderungen im Zeitablauf ablesen: So stößt ein vermeintlich modernes, innovatives Gericht nicht bei jedem auf Gegenliebe:

„ (…) und man war ein wenig gekränkt, dass das Fondue statt des erwarteten Lobs nur interessierte Nachfragen einbrachte, enttäuschende, sogar leicht abwertende Kommentare – dabei hatte man sich so viel Mühe mit den Soßen gegeben.“

(S.100)

Zum Weiterhören:
Musikstücke und Lieder finden immer wieder Erwähnung in Ernaux’s „Die Jahre“ – sie bilden gleichsam die musikalische Untermalung ihrer Lebensgeschichte: da gibt es viele französische Interpretinnen und Interpreten zu entdecken, die mir bisher weitgehend unbekannt sind, wie z.B. Georges Brassens oder Alain Souchon. Aber man trifft auch auf bekannte Namen wie Édith Piaf, Elvis Presley oder Bill Haley.

Zum Weiterlesen:
Und wieder einmal stolpere ich über einen Klassiker, den ich immer noch nicht geschafft habe zu lesen: denn Ernaux liest in ihrer Jugend heimlich Françoise Sagans Roman „Bonjour Tristesse“, der 1954 erschienen ist.

Françoise Sagan, Bonjour Tristesse
Aus dem Französischen von Rainer Moritz
Ullstein Taschenbuch
ISBN: 9783548290836

7 Kommentare zu „La vie – literarisch

  1. Gerade habe ich von Annie Ernaux „Eine Frau“ gelesen. Ein dünnes Büchlein, aber noch nie habe ich so schnell ein Buch ausgelesen. Es ist ein Buch über ihre verstorbene Mutter und ich konnte mich an vielen Stellen mit meinen Gedanken und Empfindungen wiederfinden. Sie schreibt gnadenlos ehrlich. Sehr beeindruckend.
    Deine wie immer lesenswerte Inhaltsangabe macht neugierig, danke!
    Herzliche Grüße, Bettina

    Gefällt 2 Personen

    1. Danke Bettina, ja, ich denke von Annie Ernaux gibt es viel zu entdecken. Für mich waren „Die Jahre“ das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht das letzte. Und ja, auch bei mir vergingen die 256 Seiten wie im Flug… Herzliche Grüße, Barbara

      Gefällt 2 Personen

    1. Ja, Annie Ernaux trifft mit vielen ihrer Formulierungen den Nagel auf den Kopf und legt schonungslos Wesentliches frei. Freut mich, dass Dich diese Worte auch so gepackt haben wie mich. Herzliche Grüße nach Schweden!

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    1. Ich habe zu danken, Pega. Ja, an Annie Ernaux kommt man aktuell kaum vorbei. Dann wünsche ich Dir Muße und Zeit, eine interessante Lektüre und viel Freude beim Lesen – wobei ja auch „Das Ereignis“ keine leichte Lebenssituation beschreibt. Ebenfalls ganz herzliche Abendgrüße! Barbara

      Gefällt 1 Person

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