Der November gilt in unseren Kreisen ja als Trauermonat und Monat des Gedenkens: Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag bzw. Ewigkeitssonntag – die Vergänglichkeit wird auch beim Blick in die Natur spürbar. Die Blätter fallen, die Tage werden kürzer, die Dunkelheit setzt früher ein und es ist kälter geworden. Der Gedichtband „Ultrafantasía“ von Alfonsina Storni, der gerade als letzter Band der umfassenden Werksausgabe in der Edition Maulhelden erschienen ist, scheint geradezu den perfekten lyrischen Akzent für diesen Monat zu liefern.
Er enthält Gedichte einer Autorin, die es verstand, ihre persönlichen Gefühle, ihre Liebe, aber vor allem auch ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Trauer in zeitlose Worte zu gießen. Ein sehr persönliches, sehr intimes Werk, das seine Leserschaft fordert, dem man sich mutig stellen muss und ein Werk, das man unbedingt auch im Kontext mit der Biografie der Dichterin lesen und verstehen sollte. Alfonsina Stornis Leben ist eine äußerst tragische Geschichte, für die man – ebenso wie für ihre Gedichte – in der richtigen, stabilen Verfassung sein sollte.
Sie wurde 1892 im Tessin geboren, bevor ihre Eltern 1896 mit ihr ins ursprüngliche Heimatland Argentinien zurückkehrten. Dort wuchs sie in ärmlichen Verhältnissen auf, der Vater war Alkoholiker und starb früh. Durch die Mutter entdeckte sie ihr Interesse am Theater, tourte eine Weile mit einer fahrenden Theatergruppe, bevor sie sich zur Lehrerin ausbilden ließ. Mit 20 Jahren gebar sie einen unehelichen Sohn. Schon früh begann sie zu schreiben, nach und nach wurde ihr schriftstellerisches Werk mit Preisen ausgezeichnet, doch sie litt unter Depressionen und psychischen Problemen. Sie erkrankte an Brustkrebs und verlor einige gute Freunde und Bekannte durch Selbstmord, bevor sie sich schließlich 1938 mit 46 Jahren das Leben nahm.
Die vorangegangen vier Bände der deutschen Werkausgabe der argentinischen Autorin befassen sich mit anderen literarischen Gattungen: Erzählungen, Essays, Interviews, Briefen und Theaterstücken.
Jetzt also Lyrik:
Die Ausgabe ist zweisprachig und enthält sowohl die spanischen Originalversionen als auch die deutsche Übersetzung von Hildegard E. Keller.
Und in diesen Gedichten, die sich in unterschiedlichsten Formen präsentieren – als Sonette, Kurzgedichte, Prosagedichte, die geradezu wie kurze Geschichten anmuten – spiegelt sich so Vieles aus dieser tragischen Biografie: man stößt auf den Sohn, der ohne Vater aufwachsen muss, auf die vorwurfsvolle Haltung gegenüber einer ledigen Mutter, auf den grausamen Krieg in Europa, auf den Umgang mit Tod und Krankheit. Auch die Gedankenspiele, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, sind immer wieder heraus zu lesen.
„Lebensmomente fing meine Feder ein,
(aus dem Gedicht „Dieses Buch“ – S.29)
Lebensmomente, die flüchtig waren,
Lebensmomente, gewaltig wie Feuer
oder leichter wie Seifenblasen.“
Doch zwischen all dem Schmerz, den dunklen, traurigen Gedanken, Dunkelheit und Tod gibt es auch hellere Momente, kleine Glanzlichter und überraschende Zeilen voller Zartheit und Liebe – wie zum Beispiel das zauberhafte Gedicht „Zwei Wörter“. Sogar der argentinische Tango bekommt seine Erwähnung und als sehr schön habe ich auch die Stellen empfunden, in welchen sie ihr eigenes Dasein als Dichterin und Schriftstellerin reflektiert:
„Natur, ich dank dir für das hohe Gut
(aus dem Gedicht „Das Wort“ – S.105)
des Dichtens, das du mir gabst.
Ich bin’s, die traurige Frau,
der Charon sein Ruder schon gezeigt hat.“
Neben sehr innigen und zarten Liebesgedichten taucht auch Überraschendes auf, wie zum Beispiel ein Gedicht über ihr Geburtsland, die Schweiz.
Die Schweizer Herausgeberin und Übersetzerin Hildegard E.Keller hat die Ausgabe nicht nur mit stimmungsvollen Illustrationen versehen, sondern hat die Gedichte Stornis gleichsam handverlesen – wie auch der Umschlag verrät. So ist eine Zusammenstellung von Lieblingsgedichten – sowohl der Autorin als auch der Herausgeberin entstanden. Gegliedert in Kapitel sind diese anhand der Zeiträume ihres Entstehens – so lässt sich beim Lesen auch eine zeitliche Entwicklung mit verfolgen.
Die Gedichte sind unglaublich vielschichtig und laden dazu ein, sie mehrmals zu lesen, langsam zu lesen, zu verinnerlichen, nachhallen zu lassen.
Der Band endet mit Alfonsina Storni letztem Gedicht, das sie nur wenige Tage vor ihrem Freitod verfasst hat: „Ich geh schlafen“ – in diesen letzten Zeilen zeigt sie sich geradezu von einer friedlichen, tröstlichen Seite, die jedoch um so mehr unter die Haut geht.
Die Gedichte machen es einem bei der Lektüre nicht leicht. Auch ich musste meine Lektüre ein wenig sacken lassen, bevor ich mich nach einer zweiten Lektüre jetzt an diesen Beitrag gewagt habe. Schon der Titel „Ultrafantasía“ – eine Wortschöpfung, die sie selbst in einem Gedicht verwendet – deutet darauf hin, dass diese Lyrik vielleicht über etwas hinaus führt, vielleicht jenseits der eigenen Fantasie oder der üblichen Vorstellung liegen kann. Man muss sich darauf einlassen und die intensiven, tief gefühlten und wahrhaften Worte wirken lassen. All die Trauer und den Schmerz aushalten und sich damit trösten, dass Alfonsina Storni trotz ihres kurzen Lebens auch nach langer Zeit in ihrem Werk weiterlebt und jetzt von der Nachwelt entdeckt werden kann.
Die Nacht
Danke, du Nacht
(S.219)
nicht, weil der Mond zurückkehrt
oder die Sterne leben
oder die Grillen zirpen
auf dem feuchten Marmor.
Danke, dass du
den Schmutz auf den Straßen auflöst
mit deinen unsichtbaren Schleiern.
Ein Lyrikband der so dicht und atmosphärisch ist wie der Novembernebel, durch den man sich langsam und vorsichtig vorantastet, um so immer wieder neue Aspekte zu entdecken, die aus der Nacht, dem vermeintlichen Grau und der Düsternis hervorscheinen.
Eine weitere schöne Besprechung gibt es bei Petras Bücherapotheke.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei der Edition Maulhelden, die mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Werk aufmerksam gemacht hat. Mein Dank geht auch an die Übersetzerin und Herausgeberin Frau Keller, dafür dass ich das Gedicht “Die Nacht“ in voller Länge hier präsentieren darf. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Alfonsina Storni, Ultrafantasía
Spanisch – deutsch
Herausgegeben, übersetzt und illustriert von Hildegard E. Keller
Edition Maulhelden
ISBN: 9783907248102
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Alfonsina Stornis „Ultrafantasía“:
Für den Gaumen:
Nach kulinarischen Anklängen muss man schon sehr aufmerksam Ausschau halten, doch ich bin unter anderem auf „Früchte und Honig“ (S.21) gestoßen – sehr pure, elementare Dinge, gleichsam aufs Wesentliche reduziert.
Zum Weiterhören:
Die argentinische Sängerin Mercedes Sosa hat mit „Alfonsina y el mar“ ein weltbekanntes Lied über die Autorin geschaffen, das bis heute immer wieder in neuen Fassungen zu hören ist. Sie besingt darin Stornis Tod im Meer.
Zum Weiterlesen:
Letztes Jahr habe ich Hildegard E. Kellers Roman über Hannah Arendt „Was wir scheinen“ hier auf der Kulturbowle vorgestellt. Ein intelligentes und inniges Buch, das mich sehr begeistert und zu meinen Lesehöhepunkten im Jahr 2021 gezählt hat.
Hildegard E. Keller, Was wir scheinen
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0066-5
Danke Barbara,
für die Buchvorstellung und Deine Gedanken dazu.
Den lyrischen Herbstnebel teile ich gerne.
Herzlich Bernd
P.S. Der Zündfunk, BR2, hatte Freitagabend eine schöne Sendung mit Achim Bogdahn aus Landshut.
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Bitte sehr, Bernd. Auch heute morgen hat der Novembernebel Landshut wieder im Griff.
Danke auch für den Hinweis mit der Bayern2-Sendung – ich habe gerade mal online danach gesucht. Sie wurde ja offenbar aus dem „Schwarzen Hahn“ gesendet, der neben einer Traditionskneipe unter anderem auch das Kinoptikum – ein kleines Programmkino – beherbergt. Vielleicht schaffe ich es demnächst, mal ein wenig in die Sendung reinzuhören. Dir wünsche ich einen schönen, ersten Adventssonntag! Viele Grüße, Barbara
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Das hört sich wie ein aufwühlendes Leseerlebnis an. Toll beschrieben und macht mich neugierig wie traurig zugleich. Viele Grüße!
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Danke, Alexander. Ja, die Lektüre war definitiv eine besondere Erfahrung, die ich wahrscheinlich immer mit dieser typischen Novemberstimmung verbinden werde. Herzliche Grüße und einen schönen, ersten Advent!
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