Drei Epochen, drei Frauen, drei Schicksale – was sie verbindet, ist ein Haus in der Leipziger Lerchenstraße, das eine bewegte Vergangenheit mit zahlreichen, dunklen Kapiteln aufweist: in ihrem Roman „Herumtreiberinnen“ gibt Bettina Wilpert den Geschehnissen hinter den Mauern, die der breiten Öffentlichkeit in der Regel verborgen blieben, Namen und lässt so Geschichte lebendig werden.
Man begegnet in abwechselnden Kapiteln drei jungen Frauen: Lilo, Manja und Robin.
Lilo macht in den 40er Jahren während des Nationalsozialismus unfreiwillige Bekanntschaft mit dem Gebäude in der Lerchenstraße. Sie wird inhaftiert, weil sie beschuldigt wird, im kommunistischen Widerstand gearbeitet zu haben.
Und schon zu dieser Zeit zeugen die Mauern ihrer Zelle von den vielen Menschen und Schicksalen, die diesen Ort bereits vorher geprägt haben.
„Nur wenige der Inschriften konnte sie entziffern (…) Sie hätte gern mehr über die Leute, die vor ihr in dieser Zelle saßen, erfahren, die Wandinschriften waren ein einseitiges Gespräch.“
(S.256)
Manja kommt in den 1980er Jahren in die Lerchenstraße, als sie von der Volkspolizei verhaftet und auf die Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten – im Volksmund auch „Tripperburg“ bezeichnet – gebracht wird. Wochenlang wird sie dort gegen ihren Willen weggesperrt und ständigen, erniedrigenden Untersuchungen unterzogen.
„Meine Locken sollten ab. Kurz sah ich in die Zukunft: Wie ich mir ins Haar fasste, fassen wollte, um meine Locken um den Zeigefinger zu wickeln, eine Beschäftigung, der ich meist im Unterricht nachging, wenn mir langweilig war, und wie ich ins Leere fassen würde, wie da keine Haare wären, keine Locken. Wie fühlt sich nackte Kopfhaut an?“
(S.73)
Sie war zuvor durch systemkritische Äußerungen aufgefallen und als sie schließlich im Wohnheimzimmer eines Vertragsarbeiters aufgegriffen wird, wird dies zum Anlass genommen, sie sofort ohne konkreten Grund als Geschlechtskranke – obwohl sie vollkommen gesund ist – auf der Station in der Lerchenstraße einzusperren.
„Ich wünschte mir, dass ich einen Grund finden könnte, warum ich hier war und bestraft wurde. Grundlos bestraft zu werden erzeugte ein Loch in meinem Kopf und erschütterte meinen Glauben an die Menschen.“
(S.137)
Wilpert lässt sowohl Lilo als auch Manja von den systematischen Erniedrigungen und den menschenunwürdigen Bedingungen erzählen, die sie hinter den Mauern erfahren müssen. Zudem lernt man einige weitere tragische Lebens- und Leidensgeschichten der Frauen kennen, die mit ihnen dort sind und das traurige Schicksal teilen.
„Auf der Tripperburg habe ich gelernt, dass Gruppen immer Gruppen bleiben, egal wie alt man ist, es gibt immer Dynamiken, die wehtun. Jede Person muss ihre Rolle und Position in der Gruppe einnehmen, selbst wenn sie nicht möchte. Der Gruppe entkommt man nicht.“
(S.164)
Die Frauen sind schutzlos, entblößt, vollkommen auf sich allein gestellt und die Autorin schildert die physischen und psychischen Auswirkungen der Haft. Welche Überlebensstrategien entwickeln sie? Wie kommen sie durch die Tage und Nächte? Welche Gedanken treiben sie um?
Was sie verbindet, sind die Wünsche und Träume junger Frauen, die sich sehnen nach Liebe, auf der Suche nach einem Platz im Leben, nach Frieden und Freiheit. Sie wollen unbeschwert sein, feiern, sich verlieben, glücklich sein – auch diese Seite arbeitet Wilpert gefühlvoll heraus.
Und das gilt schließlich auch für die Dritte im Bunde: Robin, die Sozialarbeiterin, die 2016 in der Lerchenstraße arbeitet. Sie betreut dort Menschen in der Flüchtlingsunterkunft, die mittlerweile in dem geschichtsträchtigen Gebäude untergebracht wurden.
„Robin würde nie mit dem zufrieden sein, was sie hatte. Sie wollte immer mehr. Es gab immer eine bessere Arbeitsstelle, eine bessere Wohnung, eine bessere Zukunft.“
(S.178)
Was erlebt sie dort? Wie geht sie mit der Situation um und welche Geschichte erzählen ihr diese Mauern, die schon so viele menschliche Schicksale umschlossen haben? Ist sie – als einzige der drei Figuren, die dort Kommen und Gehen kann – wirklich frei?
Wilpert erzählt sehr direkt, schonungslos in einer klaren Sprache, die nichts verschleiert. Die Geschichten der Frauen sind klaustrophisch, gehen unter die Haut, schmerzen, berühren und machen wütend – und doch bleibt durch die Art zu Erzählen auch noch eine gewisse Distanz. Eine feine, dünne Mauer zwischen den Frauen und mir als Leserin ist geblieben – ich fühlte mich ein wenig wie eine Zuschauerin, die von außen auf die Geschehnisse blickt. Gleich einem Kammerspiel – ganz nah dran und doch bleibt noch der Unterschied zwischen mir als Publikum und den Akteurinnen auf der Bühne.
Es ist ein eindringliches Buch, das durch die konkreten Lebensgeschichten der Frauen in den unterschiedlichen Epochen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede herausarbeitet und so die jeweiligen zeitlichen und politischen Hintergründe auf sehr persönliche Weise intensiv und unmittelbar erfahrbar werden lässt.
Weitere Besprechungen gibt es unter anderem beim Leseschatz, bei Kommunikatives Lesen, bei Literaturreich und Sandra Falke.

Mit Bettina Wilperts „Herumtreiberinnen“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „23 für 2023“ erfüllt – Punkt Nummer 11) auf der Liste: Ich möchte ein Buch, mit Leipzig als Schauplatz lesen. Im Roman kann man Leipzig in drei unterschiedlichen Epochen erleben: während des NS-Regimes, während der DDR-Zeit in den Achtzigern und in einer Flüchtlingsunterkunft 2016.

Buchinformation (in meinem Fall):
Bettina Wilpert, Herumtreiberinnen
Büchergilde Gutenberg
Artikelnummer: 173816
oder:
Bettina Wilpert, Herumtreiberinnen
Verbrecher Verlag
ISBN: 9783957325136
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Bettina Wilperts „Herumtreiberinnen“:
Für den Gaumen:
Auf der Leipziger Kleinmesse (einem Jahrmarkt) riecht es unter anderem nach „dem klebrigen Duft von Leipziger Lerchen“ (S.30), die man unbedingt probieren sollte, wenn man in Leipzig zu Gast ist (laut Wikipedia ein „Makronentörtchen, das aus Mürbeteig besteht und mit einer Masse aus Marzipan und Marmelade gefüllt ist“).
Zum Weiterhören oder Weitersingen:
In einem Luftschutzbunker wird zur Beruhigung der Nerven „Auf de schwäbsche Eisebahne“ gesungen:
„(…) es konnte zwar den Lärm nicht übertönen, doch singen war besser, als nichts zu tun (…)“
(S.143)
Zum Weiterlesen (I):
In Lilos Umfeld wird unter anderem auch Hans Fallada gelesen. Vor einiger Zeit hatte ich seinen Rügen-Roman „Wir hatten mal ein Kind“ aus dem Jahr 1934 hier auf dem Blog vorgestellt:
Hans Fallada, Wir hatten mal ein Kind
atb
ISBN: 978-3746627885
Zum Weiterlesen (II):
Die Lektüre hat mich wieder einmal daran erinnert, dass ich ja schon lange etwas von Irmgard Keun lesen wollte – vielleicht sollte ich diesem Wink jetzt endlich einmal Folge leisten:
„Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun las Lilo auf dem Titel. Das Wort kunstseiden kannte sie nicht, trotzdem entfachte es eine Vorstellung in ihr. Ich dachte, es könnte dir gefallen, meinte Klaus. Ich fand es gut, hat meine Perspektive erweitert. Erst nachdem sie es gelesen hatte, verstand sie, was er meinte.“ (S.185/186)
Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen
Ullstein Taschenbuch
ISBN: 978-3548600857
Ich mochte sehr den Anfang, sehr die Episoden mit Manja, die mir sehr nachdrücklich in Erinnerung geblieben sind. Es hat vieles von der aufmüpfigen, jugendlichen Protestliteratur aus der DDR Ende der Siebziger, Die neuen Leiden des jungen Werther bspw. Die Szene im Wald, auf dem Lada Niva mit der Freundin, das Schillern des Lichts, das ist mir wahrscheinlich der liebste Augenblick geblieben. Sehr einfühlsamer Lesebericht! Viele Grüße!
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Danke, Alexander. Ja, da sind ein paar Szenen im Buch, die sich einbrennen und sehr eindringlich sind. Die Szene, die Du beschreibst, ist eine, die für mich auch besonders gut den Wunsch nach jugendlicher Unbeschwertheit, Rebellion und Freiheit verkörpert – die Sehnsucht jung zu sein und dies auch auszuleben. Herzliche Grüße! Barbara
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