Lübecker Schicksalsgemeinschaft

Anette L. Dressler ist in Lübeck aufgewachsen. Ihr erster Roman „Brockesstraße Beletage“ ist nicht nur eine Hommage an ihre hanseatische Heimatstadt, sondern vor allem auch ein zeitgeschichtlich hochinteressantes Porträt der Nachkriegszeit des Jahres 1947, das zwei starke Frauen mit bemerkenswertem Schicksal in den Mittelpunkt stellt.

1947 ist das Jahr der Zwangseinquartierungen. Auch die Lübeckerin Alma Curtz, die ihren Mann im Krieg verloren hat und nun die geräumige Wohnung im Lübecker Stadtteil St. Lorenz Nord allein bewohnt, wird informiert, dass ihr von Amts wegen eine Mitbewohnerin zur Einquartierung zugewiesen wurde.

„Frieda begann, sich in Lübeck einzuleben. Ihre Wohnsituation als Einquartierte bei Frau Curtz fand sie nicht ideal, war jedoch dankbar, dass sie in der Beletage eines Altbaus in einer ruhigen, gutbürgerlichen Straße mit Vorgärten ein eigenes halbes Zimmer mit einem Radio und einer Innentoilette zur Mitbenutzung zur Verfügung hatte.“

(S.36)

Frieda Markuweit, ebenfalls verwitwet, musste aus Masuren fliehen und nun in der fremden Stadt ein neues Lebenskapitel beginnen.
Beide Frauen sehen der erzwungenen Wohngemeinschaft anfangs mit gemischten Gefühlen entgegen.

„Für die Lübeckerin musste es unzumutbar erscheinen, gezwungenermaßen jemand Fremdes in den eigenen vier Wänden dulden zu müssen. Jeder Mensch baut und pflegt sein eigenes Nest, richtet sich in diesem ein. Ein Fremder kann nur als Eindringling empfunden werden.“

(S.19)

Wie ist es, auf einmal seine Küche und Wohnung mit einer wildfremden Person teilen zu müssen? Zunächst gehen sich die beiden Frauen so gut wie möglich aus dem Weg, leben nebeneinander her. Es kommt zu Missverständnissen, doch bald beginnen sich die Frauen zu öffnen und Alma merkt, dass Frieda ihr wertvolle Unterstützung bei einem lange gehüteten Geheimnis geben kann und lässt die angebotene Hilfe zu.

Dressler hat ein feines Gespür für das Seelenleben und die Gedankenwelt ihrer Figuren. Sie beschreibt sowohl das Heimweh der aus Ostpreußen geflüchteten Frieda als auch die täglichen Sorgen und Ängste Almas, die zwar gerne den Kurzwarenladen ihres verstorbenen Mannes wieder eröffnen möchte, aber sich ohne ihn nicht dazu in der Lage sieht. Man spürt die tiefe Dankbarkeit beider Frauen, am Leben geblieben zu sein und das zunächst zaghafte, aber zunehmend stärker werdende Bedürfnis, wieder Pläne zu schmieden, anzupacken und neu zu beginnen.

„Wenn sie die Farbe ihres Gemütszustandes beschreiben sollte, würde Frieda ein Grau mit Sprenkeln wählen, dachte sie, als sie nach dem Aufstehen am Sonntag in ihrem Zimmer den Himmel über den Dächern Lübecks betrachtete. Dieses schwere Grau, das wie Graupensuppe auf der Stadt lag und kaum einen Lichtstrahl durchließ, hatte es in ihrer Erinnerung in Ostpreußen nicht gegeben.“

(S.137)

Die Autorin lässt das Nachkriegs-Lübeck mit zerstörten Häusern, Schwarzhandel und Milchbars, in denen zu Jukebox-Musik Swing und Boogie Woogie getanzt werden, lebendig werden. Man erfährt einiges über die schwierige Versorgungslage, die Lebensmittelkarten, den regen Tauschhandel und die teils chaotischen Umstände in der Stadt, die sich auch Kleinkriminelle zu Nutze machen.

In Rückblenden gewährt Dressler aber auch Einblicke in die Lebenssituationen der beiden Frauen vor dem Krieg: Friedas Leben im ostpreußischen Wohlstand, ihre Liebe zur Literatur und zur französischen Sprache, Almas Leben als im Viertel verwurzelte Gattin des angesehenen Kurzwarenhändlers.

Und auch wenn beide nun das Schicksal teilen, verwitwet zu sein und als Frauen auf sich allein gestellt sind, wird klar, dass zwei Welten, zwei Lebenswirklichkeiten und völlig unterschiedliche gesellschaftliche Hintergründe und Bildungsschichten aufeinanderprallen. Und doch wird man nach und nach auch Zeuge, wie sich die Frauen vorsichtig näher kommen und beginnen, sich gegenseitig zu unterstützen.

Auch wenn Anette L. Dressler in der dem Buch vorangestellten Widmung bemerkt, dass die Handlung frei erdacht ist, so ließ sie sich dennoch durch Erzählungen der Großeltern, Eltern und von Bekannten inspirieren. Dies verleiht dem Roman eine aufrichtige Authentizität und besondere Glaubwürdigkeit. Man spürt die Liebe zum Detail und das ehrliche Interesse der Autorin an den Schicksalen der Menschen, die sich in vielen liebevollen, kleinen Anekdoten und Szenen widerspiegelt.

„Brockesstraße Beletage“ fängt die geschäftige Aufbruchstimmung, das Erwachen der Lebenslust nach den dunklen Zeiten des Krieges, die Hoffnung auf bessere Zeiten und die Neuordnung von Lebensplänen auf sehr gekonnte Weise ein.
Ein einfühlsames, berührendes Werk über ein besonderes Kapitel der deutschen Geschichte und über zwei zupackende, patente und mutige Frauen, die das Herz am rechten Fleck haben, sich ihrer neuen Realität stellen und mit Optimismus und Lebensfreude die Zukunft in Angriff nehmen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Edition Stroux, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Anette L. Dressler, Brockesstraße Beletage
Edition Stroux
ISBN: 978-3-948065-28-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Anette L. Dresslers „Brockesstraße Beletage“:

Für den Gaumen:
Jeder Fleck in Almas Vorgarten wird für den Gemüse- und Kartoffelanbau genutzt. Kein Wunder, dass dann auch eine Vielfalt an Zubereitungsmöglichkeiten von Kartoffeln gefragt war, um Abwechslung in den Speiseplan zu bringen:

„(…) erweiterte ständig ihr Repertoire an Kartoffelrezepten, wie zum Beispiel Kartoffeln mit Salz gekocht, im Biermantel mit Wurzelkraut, mit Kohlrabi oder auch nach Schleswig-Holsteiner Art mit Bohnen, Birnen und Speck (…)“

(S.9)

Für Letzteres finden sich Rezepte bei Brotwein, Herzelieb oder Oma kocht.

Zum Weiterhören:
Alma tanzt gerne, unter anderem Slow-Swing zu „The way you wear your hat“ von Frank Sinatra, aber auch zu „Boogie Woogie“ von Count Basie oder zur Musik von Benny Goodman.

Zum Weiterlesen:
Friedas Sohn schreibt nebenbei Klappentexte für Büchertempel Schubert, was der Mutter sehr zu ihrer Freude eine kostenlose Ausleihkarte in der Leihbücherei beschert. Frau Schubert empfiehlt ihr neben Tucholskys „Schloß Gripsholm“ auch Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“. Beide Werke stehen auch bei mir im Regal.

Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?
Aufbau Taschenbuch
ISBN: 978-3-7466-3344-2

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