Der heutige 9. November ist ein Tag des Gedenkens, des Innehaltens, des Erinnerns und des sich Verinnerlichens. Gerade in diesen Zeiten, in welchen nur noch die letzten Zeitzeugen mahnend fungieren können, ist es an den nachfolgenden Generationen, die Erinnerungskultur lebendig und wach zu halten und den Staffelstab zu übernehmen. Und gerade dann sind es Berichte und Bücher von Zeitzeugen und Überlebenden wie Cordelia Edvardson (1929 – 2012), die von unfassbarem Wert sind und Aufmerksamkeit verdienen. Denn das als Roman bezeichnete Werk „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ ist ein klares, mutiges Buch, in dem die Autorin Zeugnis ablegt und ihre eigene Geschichte erzählt.
Cordelia Edvardson wurde 1929 in Deutschland als uneheliche Tochter der deutschen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer geboren und galt während des Nationalsozialismus’ als „Dreivierteljüdin“, obwohl sie katholisch aufwuchs.
„Als Sternträgerin muss sie jetzt jedenfalls endgültig ihr Zuhause verlassen. Sie versteht, dass sie zu einer tödlichen Bedrohung für die ganze Familie geworden ist, das Kuckucksjunge muss aus dem Nest geworfen werden.“
(S.55)
Die Mutter stellte sich im entscheidenden Moment nicht schützend vor die Tochter, um sich selbst zu retten, so dass Cordelia die Familie verlassen musste und später nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert wurde. Als Häftling A3709 verlor sie ihren Namen, ihre Identität und war gezwungen, Zwangsarbeit, unter anderem auch als Schreibkraft für Joseph Mengele zu leisten.
Sie überlebte und wurde 1945 im Alter von 16 Jahren nach Schweden gebracht, wo sie später heiratete, Mutter wurde und als Journalistin arbeitete. Von 1977 bis 2006 arbeitete sie als Korrespondentin des Svenska Dagbladet in Israel.
Ihre Mutter, die 1950 starb und die sie erst kurz vor deren Tod wiedersah, bat sie, ihr von der Zeit in den Lagern zu erzählen, um dies für ihr literarisches Werk verwenden zu können.
„Die Tochter antwortete, berichtete, so gut sie konnte. Als sie den Roman der Mutter später las, erkannte sie ihre Erinnerungen nicht wieder. Es war zu viel und doch zu wenig, es wurde vom Feuer gesprochen, aber über die Asche geschwiegen. Wie sollte es auch anders sein, es war von einer Lebenden geschrieben worden.“
(S.118)
Doch für Edvardson war klar, dass es stets einen Unterschied zwischen Überlebenden und Lebenden geben würde. Sie fasste den Entschluss, ihre Geschichte selbst zu erzählen.
Ich bewundere den Mut der Autorin – der Überlebenden – sich dieser Vergangenheit zu stellen. Ihr Buch, für das sie den Geschwister-Scholl-Preis erhielt, erschien im Jahr 1984 und ist jetzt als Neuauflage auch in Deutschland wieder erhältlich.
„Sie überlebte. Sie wurde eine Überlebende. Eine, die übrig war; eine, die hinübergezogen worden war, die über die Grenze zwischen Leben und Tod geglitten war und zurückgeblieben im grauen Nebel des Niemandslands. Dies war das Land, das es nicht gab, das Land der ungreifbaren, unerlösten Angst, ohne Sprache, ohne Worte und daher auch ohne starke, klare Gefühle.“
(S.101)
Es ist ein Buch, das mich sprachlos und still werden lässt. Ein Buch, für das mir die Worte fehlen, um es angemessen zu beschreiben und zu würdigen. Ein Buch, das – nur weil meine Besprechung dieses Mal kürzer ausfallen mag – nicht weniger wichtig ist – im Gegenteil. Es ist ein Zeitzeugnis, es beschreibt Grauen und Gräueltaten, es findet Worte für das Unaussprechliche. Es schreibt an gegen das Verdrängen und gegen das Vergessen. Es ist ein Buch, das gelesen werden sollte.
Daniel Kehlmann hat ein eindringliches Nachwort zur Neuausgabe des Buches geschrieben, dessen letzte Worte Vieles, was auch mir bei der Lektüre durch den Kopf ging, gut auf den Punkt bringen und das ich an dieser Stelle gerne zitiere, weil es ohnehin schwer ist, Worte bzw. die richtigen Worte zu finden:
„Nein, die Größe dieses Romans, der keiner ist, liegt eben darin, dass nichts ‚nachgedichtet‘ wird, dass in kühler Ablehnung von hohem Pathos, ohne Beschönigung, ohne Furcht und mit einem Mut zur Klarheit, der beim Lesen immer wieder den Atem stocken lässt, davon berichtet wird, wie die Todeslager die Menschen seelisch entleerten. Wer solcher Grausamkeit unterworfen war, hörte darüber auf, als Individuum zu existieren. Dass Cordelia Edvardson danach doch wieder zu einer reichen Individualität fand und die Kraft aufbrachte, nicht nur vom Feuer, sondern auch von der Asche zu sprechen, also von der grauen Kälte und dem Nichts, die das Innerste der Lager waren, ist eine fast ungeheuerliche Leistung dieser Schriftstellerin und ihres kurzen, großen Buches.“
(Daniel Kehlmann im Nachwort, S.142)
Weitere Besprechungen gibt es bei Kulturgeschwätz und Literaturleuchtet.

Buchinformation:
Cordelia Edvardson, Gebranntes Kind sucht das Feuer
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
Hanser
ISBN: 978-3-446-27756-4
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Weitere Empfehlungen, um sich mit dem Thema zu beschäftigen:
Zum Weiterschauen:
Im ZDF war diese Woche die 90-minütige Dokumentation „Ich bin! Margot Friedländer“ zu sehen, die noch bis zum 02.11.2028 in der ZDF Mediathek verfügbar ist und die ich uneingeschränkt empfehlen kann und möchte. Auch hier legt eine starke und bewundernswerte Frau, welche diese Woche 102 Jahre alt geworden ist, ihr Zeugnis ab, erzählt ihre Geschichte, leistet ihren Beitrag gegen das Vergessen.
Zum Weiterlesen (I):
Auch Grete Weil wurde – wie Cordelia Edvardson – mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet und hat mit ihrem Roman „Der Weg zur Grenze“ einen flammenden Appell an Zivilcourage und Menschlichkeit verfasst, den ich letztes Jahr hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe.
Grete Weil, Der Weg zur Grenze
C.H.Beck Verlag
ISBN: 978-3-406-79106-2
Zum Weiterlesen (II):
2021 hatte ich das großartige Jugendbuch „Dunkles Gold“ von Mirjam Pressler – 1940 geboren und Kind einer jüdischen Mutter – hier auf dem Blog vorgestellt, das sich mit der Geschichte des Antisemitismus‘ und des Erfurter Schatzes auseinandersetzt.
Mirjam Pressler, Dunkles Gold
Gulliver
ISBN: 978-3-407-75491-2
Zum Weiterlesen (III):
Und auch Shelly Kupferbergs „Isidor: Ein jüdisches Leben“ über ihren jüdischen, Urgroßonkel, der das Leben so liebte und den Nationalsozialisten zum Opfer fiel, kann ich sehr empfehlen und habe ich bereits ausführlich hier auf der Bowle besprochen.
Shelly Kupferberg, Isidor: Ein jüdisches Leben
Diogenes
ISBN: 978-3-257-07206-8
Danke dir so sehr für diesen Einblick gegen das Vergessen
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Danke Dir, Manuela. Es war mir ein Anliegen.
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Das ich nur zu gut verstehe!
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