Draußen regnet es und die Windböen fegen über Dächer und Bäume, da wird es jetzt wirklich Zeit, meinen „23 für 2023“-Programmpunkt „Herbstbuch“ endlich vorzustellen. Hatte ich ursprünglich eigentlich Ali Smiths Auftakt ihrer Jahreszeitentetralogie dafür geplant und auch schon gelesen, war ich dann jedoch nach der Lektüre von Jarka Kubsovas „Marschlande“ und Dörte Hansens „Zur See“ überzeugt, dass es einfach diese beiden sein müssen. Warum? Weil sie mir eine wunderbare, frische Herbstbrise aus dem Norden in mein bayerisches Lesestübchen geweht haben.
Jarka Kubsovas Roman „Marschlande“ bringt kunst- und gefühlvoll zwei Frauenleben zu einander in Verbindung, die auf den ersten Blick mehr als 400 Jahre trennen und wenig gemeinsam zu haben scheinen. Und doch wird nach und nach klar, dass es Parallelen gibt und ein starkes Band zwischen den beiden Frauen entsteht.
Britta ist mit Mann und Kindern aus der Stadt rausgezogen ins Hamburger Umland, in die sogenannten Marschlande an der Elbe. Sie fühlt sich allein, abgeschnitten vom Leben und einsam in diesem großen, unpersönlichen Haus das sie bezogen haben – ein Traum ihres Ehemanns. Ihren Beruf als Geografin hat sie vor Jahren bereits weitgehend für die Betreuung der Kinder aufgegeben und auch ihr soziales Netz in der Stadt musste sie nun hinter sich lassen.
„Sie war der Meinung, dass man etwas nur dann vollständig begreifen konnte, wenn man seinen Anfang kannte. Es ging ihr mit Orten und Landschaften wie mit Menschen, in die man sich verliebte und von denen man einfach alles wissen wollte.“
(aus Jarka Kubsova „Marschlande“, S.44)
Im Ort stößt sie bald auf die Geschichte und die Spuren der ehemaligen Bäuerin und Hofbesitzerin Abelke Bleken – einer realen historischen Persönlichkeit – die 1583 des Vorwurfs der Hexerei bezichtigt und verbrannt wurde.
„Während fast alle Bauern zu dieser Zeit lediglich Pächter waren, waren Marschbauern Besitzer. Höfe und Land gehörten ihnen. Sie hatten das Wasser gezähmt, das Land trockengelegt, die fruchtbaren Marschwiesen in Anbauflächen verwandelt, die Hamburg ernähren sollten.“
(aus Jarka Kubsova „Marschlande“, S.95)
Abelkes Geschichte lässt sie nicht mehr los und nach und nach tragen ihre Recherchen Früchte. Sie lernt Ruth kennen, die sich ein „Archiv der unerhörten Frauen“ angelegt hat:
„Alle diese Frauen – bisher habe ich die Recherche auf Hamburgerinnen beschränkt – waren auf ihre Weise besonders. Sie fielen aus der Norm, waren aufständisch, nicht regelkonform, haben etwas Wichtiges geleistet, für etwas gekämpft oder gegen etwas. Viele vergeblich. Viele wurden ermordet, sind in Psychiatrien hingesiecht, erkrankt am erlittenen Unglück. Und dann wurden ihre Leistungen schlicht vergessen, das ihnen angetane Unrecht ebenfalls. Wären sie Männer gewesen, gäbe es Denkmäler für sie, Straßenschilder, Biographien.“
(aus Jarka Kubsova „Marschlande“, S.131)
Kubsova erzählt in wechselnder Perspektive aus Brittas Leben im Hier und Jetzt mit Alltags- und Eheproblemen und aus Abelkes Leben im 16. Jahrhundert, dem harten Alltag auf dem Hof, der geprägt ist von schwerer, körperlicher Arbeit und den Ungerechtigkeiten, Anfeindungen und dem Neid, welchem sie als weibliche Hoferbin und -besitzerin ausgesetzt war.
Das Buch wechselt zwischen herzzerreißend schönen Natur- und Landschaftsbeschreibungen und der Schilderung von Alltagssorgen und Problemen, wie sie Frauen damals wie heute erleben und erleiden mussten und müssen.
Ein kluges und eindrucksvolles Buch über zwei starke Frauen in einer rauhen, magischen Landschaft und mit einer wichtigen Botschaft, aus dem ich viel Neues erfahren und lernen konnte und das ich zweifelsohne zu den Höhepunkten in meinem Lesejahr 2023 zähle.
Ebenfalls durch herbstliches und nordisches Küstenflair – das sich schon in der zauberhaften Aufmachung der Büchergilde-Ausgabe im blau-weißen Delfter Kachel-Look niederschlägt – besticht Dörte Hansens Roman und Bestseller „Zur See“, der sicherlich kein Geheimtipp mehr ist.
Doch ist der Erfolg des Buches für mich berechtigt, da die Autorin die Stimmung und Atmosphäre auf einer Nordseeinsel wunderbar einfängt und mit einem feinem Auge fürs Detail Charaktere schafft, die authentisch wirken.
„Und sie hat nicht gefragt, wie dieses Jahr das Krippenspiel gelaufen ist, der Kindergottesdienst. Wie es gewesen ist, die Christmette zu feiern und dann allein in dieses leere Pastorat zu kommen. Stille Nacht. Wie man als Pastor auf der Insel angeschaut wird, wenn sich herumgesprochen hat, dass man zu Weihnachten allein ist wie ein Alter im Seniorenheim, den Heiligabend niemand haben will.“
(aus Dörte Hansen „Zur See“, S. 118)
Da gibt es den einsamen Inselpfarrer, dessen Frau aufs Festland gezogen ist und ihn allein gelassen hat mit seiner schrumpfenden Gemeinde und seinen verzweifelten Versuchen, die Kirche attraktiv zu gestalten und ihn jetzt nur noch ab und an besuchen kommt.
„Er tut nur das, was schon die Vorbesitzer seiner Jacke taten: das kleine Frieren üben, weil irgendwann das große Frieren kommen wird. Der große Sturm, die große Flut oder die eine große Welle. Wer dann nicht frieren kann, ist schon verloren.“
(aus Dörte Hansen „Zur See“, S. 7/8)
Da ist der verkrachte, alkoholkranke Kapitän, der nur noch die Leinen der Inselfähre los- und festmacht und der – trotz aller Bemühungen seiner zupackenden Mutter Hanne – immer wieder abstürzt, sich einfach nicht vom Alkohol fernhalten kann.
Oder Hannes Tochter Eske, die immer wieder eine Auszeit von ihrer Tätigkeit im Seniorenheim benötigt und von Zeit zu Zeit verschwindet, um nur einige, wenige Beispiele zu nennen.
Hansen hat einen feinfühligen und melancholischen Familien- und Inselroman geschrieben, der sich durch seine stimmungsvolle, klingende Sprache und den feinen Pinselstrich bei der Figurenzeichnung wohltuend abhebt.
„Seit Stunden hat er jetzt dem Himmel dabei zugesehen, wie der die Farben wechselte. Das Schwarz, das dunkle Grau, das helle Grau, das Sonnenrot, das tiefe Blau beiseiteschob, bis er den blassen Farbton fand, den er wohl bis zum frühen Abend tragen wird. Septemberblau.“
(aus Dörte Hansen „Zur See“, S.58)
Ein menschliches, ehrliches und aufrichtiges Buch, das nicht wertet und auf ruhige, unaufgeregte Weise klar macht, dass jede und jeder ein Päckchen zu tragen hat und auch auf einer Urlaubsinsel nicht immer die Sonne scheint.
Weitere Besprechungen zu „Marschlande“ gibt es unter anderem bei Bücheratlas, Literarische Abenteuer und Magdarinesubstack.
Weitere Besprechungen von „Zur See“ zum Beispiel bei Kommunikatives Lesen, Buchbube und Literaturreich.

Mit diesen beiden Büchern habe ich einen weiteren Punkt meiner „23 für 2023“ gleich doppelt erfüllt – Punkt Nummer 18) auf der Liste: Ich möchte ein Herbstbuch lesen. Beide Bücher passen für mich stimmungstechnisch hervorragend in den Herbst und zu einer guten Tasse Tee.

Buchinformationen:
Jarka Kubsova, Marschlande
S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397496-6
Und in meinem Fall die schöne Ausgabe der Büchergilde:
Dörte Hansen, Zur See
Büchergilde Gutenberg
ISBN: 978-3-7632-7428-4
oder aber auch bei:
Dörte Hansen, Zur See
Penguin
ISBN: 978-3-328-60311-5
***
Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich die beiden Herbstbücher:
Für den Gaumen (I):
Beim Ausflug nach Hamburg mit ihrem Vater, darf Abelke in einer Gastwirtschaft einkehren und es gibt „Sauerkrautsuppe mit Fleischklößchen, später Zwiebelfleisch mit Brot und Griebenschmalz“ (aus Jarka Kubsova „Marschlande“, S.121).
Für den Gaumen (II):
Wer schon einmal an der Küste geurlaubt hat, kennt diese Szene vermutlich: Möwe schnappt sich Fischbrötchen – ein Klassiker…
„Am Fähranleger machen Silbermöwen Jagd auf die Touristen. (…) Dann setzen sie sich in Bewegung, steigen auf und stürzen sich im Beuteflug auf ihre Opfer, die ungläubig in ihre leeren Hände starren, eine Schrecksekunde lang, bevor sie ihre Heringsbrötchen in der Luft verschwinden sehen.“
(aus Dörte Hansen „Zur See“, S.115)
Zum Weiterschauen und Weiterklicken:
In Kubsovas Roman lernt Britta auch die Gemälde der Hamburger Malerin Marie Amelie Ruths (1871 – 1956), die mir bisher kein Begriff war, kennen und ein Bild wird wie folgt beschrieben:
„Das Bild zeigte eine Bauerndiele, groß und weit. Der obere Teil der Klöndör, einer zweigeteilten Tür, stand offen. Von dort fiel Licht herein, taghelles, warmes Licht. Es fiel auf eine Frau, die allein auf einem Stuhl saß, mit einer Handarbeit im Schoß. Sie schien in Gedanken versunken. Man spürte förmlich einen milden Luftzug hereinsehen, man spürte Ruhe und Frieden.“
(aus Jarka Kubsova „Marschlande“, S. 129)
Auf der Website „Museen Nord“ ist ein sehr ähnliches Bild der Malerin zu sehen.
Zum Weiterlesen (I):
Jarka Kubsovas Roman „Bergland“, der die Geschichte einer Südtiroler Bauernfamilie über mehrere Generationen hinweg erzählt, mochte und mag ich sehr gerne und daher habe ich bereits eine begeisterte Besprechung hier auf der Bowle verfasst. Eine andere Region, eine andere Landschaft – aber ebenfalls ein sehr lesenswertes Buch:
Jarka Kubsova, Bergland
Wunderraum
ISBN: 978-3-442-31618-2
Zum Weiterlesen (II):
Eines der ersten Bücher, die ich 2020 hier auf meiner Kulturbowle vorgestellt habe, war Susanne Matthiessens „Ozelot und Friesennerz“, in dem sie über ihre Kindheit auf der Insel Sylt und ihre Familie, die dort ein erfolgreiches Pelzgeschäft betrieb, erzählt. Wer also mehr Inselluft schnuppern möchte, hat hier eine Möglichkeit:
Susanne Matthiessen, Ozelot und Friesennerz
Ullstein
ISBN: 978-3-550-20064-9
Was für eine schöne Ausgabe von dem Hansen Buch! Ich hab’s nur digital gehabt. Da überlege ich glatt … „Marschlande“ will ich auch noch lesen, würden sich nur nicht um mich herum die Bücher häufen und die Regale überquellen. Danke für deine schöne Besprechungen!! Viele Grüße und Danke fürs Verlinken!
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Gern geschehen, Alexander. Ja, in diese Delfter Kacheln habe ich mich auch sofort verliebt. Und das mit den Büchertürmen und überquellenden Regalen kenne ich gut, sehr gut sogar! 🙂 Herzliche Sonntagabendgrüße! Barbara
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Hach, du erinnerst mich nachdrücklich daran, dass ich noch kein Buch von Hansen kenne, aber zum Glück habe ich schon zwei im Regal, wenn auch nicht die schöne Ausgabe mit den Kacheln 🙂
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Na dann steht dem Lesevergnügen und der Neuentdeckung einer Autorin ja nichts im Wege. 🙂 Ich habe bisher „Altes Land“ (in Vor-Blog-Zeiten) und „Zur See“ gelesen, aber „Mittagsstunde“ kenne ich auch noch nicht, obwohl sich das inhaltlich auch interessant anhört… Ich mag gerade den nordisch-klaren und doch poetischen Stil sehr gerne.
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