Venedigs jüdisches Ghetto

Das Ghetto bekam seinen Namen bzw. seine Bedeutung in Venedig, denn das erste abgeschlossene Wohngebiet für die jüdische Bevölkerung wurde im 16. Jahrhundert in der Lagunenstadt eingerichtet und erhielt den Namen wohl aufgrund der Gießerei (italienisch geto), die im selben Stadtviertel lag. Heute soll es um zwei hervorragende Bücher gehen, die sich mit der jüdischen Geschichte Venedigs beschäftigen – und zwar zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten: Mirjam Presslers „Shylocks Tochter“ nimmt uns mit ins Jahr 1568, d.h. in eine Zeit, in der viele europäische Juden Schutz im Ghetto suchten. Sie schenkte in ihrem Jugendbuch dem Shakespeare-Klassiker „Der Kaufmann von Venedig“ eine neue, andere Perspektive.

David Hewson hingegen hat mit „Garten der Engel“ einen hochspannenden und zugleich bewegenden Roman verfasst, der die dunkle Zeit des Nationalsozialismus in Venedig lebendig werden lässt. Er thematisiert Widerstand und die Deportation der jüdischen Gemeinde Venedigs auf eine sehr ergreifende Art und Weise.

Mirjam Pressler, die 1940 in Darmstadt als nichteheliche Tochter einer jüdischen Mutter geboren wurde und 2019 in Landshut verstorben ist, hat in vielen ihrer Jugendbücher das Judentum thematisiert und erklärt. Für ihr engagiertes Werk hat sie unzählige Preise, unter anderem auch die Buber-Rosenzweig-Medaille erhalten, die jährlich an „Personen, Institutionen oder Initiativen, die sich insbesondere um die Verständigung zwischen Christen und Juden verdient gemacht haben und im wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen oder sozialen Bereich einen Beitrag für die christlich-jüdische Zusammenarbeit geleistet haben“ verliehen wird. Für das Jahr 2024 wird diese Auszeichnung am 3. März 2024 der Pianist Igor Levit erhalten.

Shylocks Tochter“ Jessica – jung, ungestüm und leidenschaftlich – will im Venedig des 16. Jahrhunderts ausbrechen aus dem jüdischen Leben im abgeschlossenen Ghetto. Die Tochter des Geldverleihers verliebt sich in einen christlichen Adligen und möchte diesen heiraten. Eine Verbindung, die ihr Vater niemals gut heißen und bewilligen wird, so dass sie einen gefährlichen und verhängnisvollen Plan schmiedet, um ihren Willen zu erreichen.

Die Geschichte – frei nach Shakespeare und aus weiblicher Perspektive – ist spannend erzählt und besticht für mich vor allem auch durch die beiläufige Vermittlung von interessantem, geschichtlichem Wissen.
In Presslers Buch erfährt man viel Hintergrund – über jüdische Feste, jüdische Bräuche bzw. jüdisches Leben. Sie lässt das Treiben im Venedig kurz vor 1600 für die Leserschaft sehr sinnlich und plastisch werden.

„Diese Juden waren häufig Marranen, das heißt zwangsgetaufte Juden, die, trotz ihrer Taufe, in den Ländern des Westens weiterhin Verfolgungen und Demütigungen ertragen mussten. Viele lebten in der Stadt, und niemand wusste so recht, ob sie nun Christen oder Juden waren, andere jedoch waren in aller Öffentlichkeit zum Glauben ihrer Väter zurückgekehrt und freiwillig ins Ghetto Vecchio gezogen. Und immer neue suchten Schutz in Venedig.“

(aus Mirjam Pressler „Shylocks Tochter“, S.27)

Man bekommt einen guten Eindruck vom Leben im Ghetto und versteht, dass es zur damaligen Zeit ein Zufluchtsort war, ein Ort der Jüdinnen und Juden Schutz bot. Man erhält Einblick in Regelungen und Einschränkungen, welchen die jüdische Bevölkerung unterlag.

Mit „Shylocks Tochter“ hat Pressler zweifelsohne ein zeitloses, wertvolles und wunderbar lesbares Buch geschaffen, das nicht nur jungen LeserInnen, sondern wirklich jeder und jedem, die oder der sich für die jüdische Geschichte und das Ghetto in Venedig interessiert, einen großartigen Zugang zur Thematik eröffnet und somit auch lohnenswerte Ergänzung zur Shakespeare-Lektüre sein kann.

David Hewsons „Garten der Engel“ hingegen schlägt das Kapitel der NS-Zeit in Venedig im Jahr 1943 auf und kann nahezu auch als fesselnder Kriminalroman gelesen werden.
Kurz vor seinem Tod will der venezianische Seidenweber Paolo Uccello seinem fünfzehnjährigen Enkel Nico noch das dunkelste Kapitel seiner Lebensgeschichte in Form eines Manuskripts mit auf den Weg geben. Seite um Seite taucht Nico ab in dieser unglaublichen Geschichte aus dem Jahr 1943, als sein Großvater in Ereignisse verstrickt wurde, die sein Leben veränderten und muss seine Sicht auf den Nonno (italienisch für Opa) plötzlich auf eine völlig neue Grundlage stellen.

„Die Menschen…“ Ihm stockte die Stimme. „Diejenigen, die siegten. Diejenigen, die verloren. Diejenigen, die dazwischen gefangen waren und nicht genau wussten, wohin sie gehörten.“ Er tippte mir auf die Schulter. „Und diejenigen, die nur abwarteten und zusahen, die glaubten, Dunkelheit, Schmerz und Verlust würden an ihnen vorübergehen, solange sie sich im Hintergrund hielten.“

(aus David Hewson „Garten der Engel“, S.12/13)

Denn der geliebte Nonno hat sich in seinen Aufzeichnungen eine unglaubliche Geschichte von der Seele geschrieben. Eine Geschichte über die Liebe, über den Widerstand und vor allem auch ein großer, wichtiger Appell zur Zivilcourage.

„Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden? Wohl wissend, dass dein Leben dabei ausgelöscht werden könnte?“

(aus David Hewson „Garten der Engel“, S.46)

Selten habe ich ein Buch so atemlos und so gebannt gelesen wie „Garten der Engel“. Bereits von den ersten Seiten an entwickelt es einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann und möchte.

Hewson hat wahre Begebenheiten und Persönlichkeiten in seinen Roman einfließen lassen und somit unter anderem auch Giuseppe Jona, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde, der sich am 17. September 1943 selbst das Leben nahm, um die Gemeindemitglieder nicht an die Nationalsozialisten verraten bzw. ausliefern zu müssen, ein Denkmal gesetzt.
Leider wurden dennoch ca. 230 venezianische Juden, die damals nicht mehr ausschließlich im Ghetto, sondern über das ganze Stadtgebiet verteilt lebten, in Konzentrationslager deportiert und lediglich 8 von ihnen kehrten lebend zurück (Quelle: Nachwort/Anmerkungen des Autors, S.381).

Wer mehr über Venedig, das venezianische Ghetto und die Geschichte jüdischen Lebens in der Serenissima erfahren möchte, dem kann ich beide Bücher uneingeschränkt empfehlen und wärmstens ans Herz legen. Nach der Lektüre geht man mit anderen Augen durch die Gassen und über die Plätze im Sestiere Cannaregio bzw. durch das Gheto novo, vecchio und novissimo und nimmt sich Zeit für diesen besonderen, geschichtsträchtigen Ort.

Eine weitere Besprechung zu „Shylocks Tochter“ bzw. weiterer Venedig-Lektüre gibt es bei Bingereader.

Eine weitere, ausführlichere Besprechung zu „Garten der Engel“ gibt es unter anderem bei Zeichen&Zeiten.

Mit Mirjam Presslers „Shylocks Tochter“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 23 für 2023erfüllt – Punkt Nummer 8) auf der Liste: Ich möchte ein Buch aus den 90er Jahren lesen. Presslers Roman erschien 1999 und ist eines von zahlreichen Jugendbüchern aus ihrer Feder, die sich mit dem Judentum beschäftigen.

Buchinformationen:
Mirjam Pressler, Shylocks Tochter
Beltz & Gelberg
ISBN: 978-3-407-81027-4

David Hewson, Garten der Engel
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag
ISBN: 978-3-85256-876-8

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Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich die beiden Bücher über das jüdische Venedig:

Für den Gaumen (I):
In „Shylocks Tochter“ wird zur Stärkung Hühnersuppe gekocht:

„Zwei Hühner für eine kräftige, gute Suppe, (…) Er hat frisches Gemüse gebracht, Lauch, Sellerie, Karotten und Zwiebeln, (…) Damit die Suppe wirklich gut wird (…)“

(aus Mirjam Pressler „Shylocks Tochter“, S.53/54)

Für den Gaumen (II):
Und auch im 20. Jahrhundert und in Hewsons Roman wird Suppe gekocht, allerdings auch ein nahrhaftes Nudelgericht „Pasta e Fagioli“ – ein Rezept gibt es unter anderem bei Suppenblog.

„Wenn ihr der Sinn danach stand, kochte sie Töpfe voller dampfender Suppe aus Dosentomaten, die sie mit dem Gemüse auffüllte, das sie auftreiben konnte, oder die typische Armeleutemahlzeit pasta e fagioli. Die verkaufte sie dann für ein paar Lire, aber nur an die Männer des Viertels und an ein paar Frauen.“

(aus David Hewson „Garten der Engel“, S.51)

Zum Besichtigen bzw. für einen Venedigbesuch:
Sollte man in Venedig sein, lohnt es sich unbedingt das jüdische Ghetto auch im Rahmen einer dort angebotenen Führung zu besichtigen, die es – zumindest derzeit – sogar ermöglicht, zwei Synagogen zu besichtigen und einen guten Überblick über die Geschichte dieses besonderen Ortes gibt.

Zum Weiterschauen oder für einen Museumsbesuch:
David Hewson bezieht sich in „Garten der Engel“ auch auf den britischen Maler William Turner, der fasziniert war von der Lagunenstadt sowie den besonderen Lichtverhältnissen und diese in zahlreichen Gemälden verewigt hat.

„Vor dem Krieg hatte seine Mutter ihn einmal in die Ausstellung der Werke William Turners, eines Engländers in der Accademia mitgenommen. Verschwommene Aquarelle in wechselnden Farben, die sie so begeisterten, dass sie den Druck eines der Bilder im Esszimmer über dem Tisch hängen hatten. Boats in front the Dogana and Santa Maria della Salute. Vor über hundert Jahren gemalt.“

(aus David Hewson „Garten der Engel“, S.86/87)

Das im Roman beschriebene Gemälde kann man hier auf der Website der Londoner Tate Gallery sehen.

Zudem sind aktuell einige Werke William Turners im Münchner Lenbachhaus zu sehen – auch einige Venedigbilder. Die Sonderausstellung „Turner. Three Horizons“ läuft noch bis zum 10.03.2024. Auch auf der Website zur Ausstellung gibt es schon zahlreiche, lohnenswerte Einblicke.

Zum Weiterlesen (I):
Ein großartiges Buch von Mirjam Pressler, die ihre letzten Lebensjahre in meiner Heimatstadt Landshut verbracht hat, habe ich bereits hier auf der Kulturbowle vorgestellt: Dunkles Gold. Es erzählt die Geschichte des Erfurter Goldschatzes und zudem sehr viel über jüdische Geschichte – eine große Empfehlung, die von Herzen kommt!

Mirjam Pressler, Dunkles Gold
Gulliver
ISBN: 978-3-407-75491-2

Zum Weiterlesen (II) oder für einen Theaterbesuch:
Natürlich kann man „Shylocks Tochter“ auch mit Gewinn lesen ohne das Shakespeare’sche Original „Der Kaufmann von Venedig“ zu kennen, aber es macht doch auch besonders viel Freude, wenn man das berühmte Drama bereits kennt. Für mich hat sich das Stück bei einem Theaterbesuch im Münchner Residenztheater vor vielen Jahren noch unter der Regie von Dieter Dorn wohl für immer ins Gedächtnis eingebrannt – Rolf Boysen spielte damals den Shylock.

William Shakespeare, The Merchant of Venice / Der Kaufmann von Venedig
Hrsg., Übers. und Komm. von Barbara Puschmann-Nalenz
Reclam
ISBN: 978-3-15-009800-4

Und heute kann ich sogar auch noch ein paar passende Fotoimpressionen bieten:
Die Gedenktafel für Giuseppe Jona, sowie das Holocaust-Mahnmal in Form von sieben Reliefs des litauischen Künstlers Arbit Blatas schaffen einen Ort, der dem Gedenken Raum geben kann.
Aber es ist heutzutage auch ein Platz für Leben und Fröhlichkeit im Ghetto: Man beachte diesbezüglich den farbenfrohen, bunten „Parkplatz“ vor der Scuola Materna Comunale, der lediglich ein paar Schritte entfernt liegt.

13 Kommentare zu „Venedigs jüdisches Ghetto

    1. Stimmt, da hatten wir offenbar das ähnliche fotografische Auge. 😉
      Der Anblick strahlt einfach große Fröhlichkeit und Lebensfreude aus. 🙂
      In Venedig sind diese Roller ja offenbar das bevorzugte Verkehrsmittel Nummer eins für die junge Generation 🙂 Herzliche Grüße!

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    1. Lieber Bernd,
      Dankeschön. Ich habe beide Bücher als sehr berührend, erhellend, wichtig und absolut lesenswert empfunden. Wenn ich das mit meinem Beitrag vermitteln konnte, freut es mich sehr.
      Herzliche, friedliche Grüße! Barbara

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  1. Danke für diesen schönen Artikel. Bin direkt in Gedanken wieder in Venedig gewesen 🙂 Garten der Engel kommt direkt auf die LIste. Schicke ganz liebe Grüße und lieben Dank für die Verlinkung.

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    1. Sehr gerne, liebe Sabine. Ich lese Deine literarischen Reiseberichte „… by the book“ immer sehr, sehr gerne.
      Ich bin mir ziemlich, um nicht zu sagen sehr sicher, dass Du „Garten der Engel“ mögen wirst… und auf jeden Fall wirst Du auch dann wieder in Venedig sein. 🙂 Viel Freude beim Lesen und ganz herzliche Grüße! Barbara

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