Würdigung der Fluchthelfer

Ich war noch niemals in Marseille. Doch irgendwie habe ich bei der französischen Hafenstadt immer gleich die Assoziation eines kulturellen Schmelztiegels, einer bunten, lebhaften, quirligen Metropole voller Menschen im Kopf. 1940 war Marseille Zufluchtsort, Sammelpunkt und Durchgangsstation für viele, die vor dem Regime des Nationalsozialismus geflohen waren und nun auch einen Ausweg aus dem besetzten Frankreich suchten. Uwe Wittstock beschreibt in seinem Sachbuch „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“ auf bewegende und packende Weise die Schicksale zahlreicher LiteratInnen, KünstlerInnen und Intellektueller, die durch Varian Fry und eine Gruppe mutiger und zupackender Menschen um ihn herum, Hilfe bei ihrer Flucht bekamen.

„Die Innenstadt von Marseille ist hoffnungslos überfüllt. Sie war immer schon eng und voller Leben, aber ein Menschengewühl wie in diesem Sommer hat die Stadt noch nicht erlebt. Seit der Teilung Frankreichs ist Marseille der einzige Überseehafen des Landes, der nicht von den Deutschen kontrolliert wird.“

(S.133)

Varian Fry kommt aus seiner amerikanischen Heimat nach Marseille mit dem klaren Ziel, möglichst vielen Menschen zur Ausreise und zur Freiheit zu verhelfen. Er baut eine Hilfseinrichtung auf, die sich mehr und mehr auch zur Fluchthilfeorganisation entwickelt. Da werden Fluchtrouten zur See und über die Berge ausgespäht, Fluchthelfer zur Seite gestellt, Visa, Ausreisepapiere und wichtige Dokumente organisiert.

Einige seiner Schützlinge benötigen zunächst bereits Hilfe, um aus den Internierungslagern wie Gurs oder Les Milles zu entkommen. Andere sind über lange Zeiträume auf der Flucht vor den immer weiter vorrückenden Deutschen. Sie haben oft eine abenteuerliche, entwürdigende und nervenaufreibende Zeit hinter sich, die einer Odyssee gleicht – da musste auf Strohsäcken geschlafen, im Heuschober oder in Bordellzimmern Unterschlupf gesucht werden. Die Angst und die Sorge, keinen Ausweg mehr zu finden, sind stetiger Begleiter.

„Feuchtwanger steigt aus, er weiß, dass die Nächte im Süden Frankreichs auch im Juni noch kalt sein können, aber er will lieber unter freiem Himmel frieren, als noch eine Nacht auf den verdreckten Holzplanken ihres Waggons zuzubringen. Er geht ein paar Schritte auf und ab, in der Abenddämmerung kommt ihm die Wiese märchenhaft schön vor, eine Zauberwiese. Er legt sich hin, streckt sich, dehnt sich, wickelt sich fest in seine Decke, schaut in die Sterne und genießt das Glück, überlebt zu haben.“

(S.99)

Bürokratische Hürden, fehlende Papiere, geplatzte Schiffsverbindungen, Schlupflöcher und Fluchtrouten, die auffliegen und nicht mehr nutzbar sind – Fry und seine MitstreiterInnen haben es mit einer herausfordernden und sich stetig ändernden Lage und Gefahrensituation aufzunehmen.

Die Liste der zu rettenden Personen und Schützlinge Varian Frys ist lang und prominent: Walter Benjamin, Hannah Arendt, die Feuchtwangers, Heinrich Mann und seine Frau Nelly, Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel und viele mehr.

„Fry ist nervös. Die Gruppe, die morgen zur Grenze aufbrechen soll, ist mit den Ehepaaren Mann, Werfel, Feuchtwanger und mit Thomas Manns Sohn Golo die mit Abstand prominenteste, die er bis jetzt auf den Weg gebracht hat. Es darf nichts schiefgehen.“

(S.179)

Bei vielen Szenen stockt einem auch heute viele Jahrzehnte später noch der Atem. Oft ist es knapp und wenige Augenblicke oder auch einfach der eine oder andere Grenzbeamte, der vielleicht wohlwollend ein Auge zudrückt, entscheidet über die Zukunft der Menschen. Darüber, ob die Flüchtenden eine Chance bekommen, in Freiheit leben zu können oder zurück ins Internierungslager geschickt oder gar ausgeliefert werden.

„Für Fry wird das Gespräch immer unerträglicher. Er ist empört, er kann seinen Zorn nur mit Mühe im Zaum halten. Schon sein Leben lang hat er es gehasst, wenn Autoritäten derart ungerührt ihre Macht ausspielen, wenn sie nicht danach fragen, ob etwas richtig oder falsch ist, sondern nur danach, was Vorteile bringt. Politik ohne Rücksicht auf Moral und Menschlichkeit ist für ihn reiner Zynismus.“

(S.197)

Uwe Wittstock setzt mit seinem Buch nicht nur Varian Fry, sondern auch zahlreichen weiteren engagierten und mutigen Helfenden ein literarisches Denkmal, so zum Beispiel Miriam Davenport oder Mary Jayne Gold, Hans und Lisa Fittko und vielen mehr, um stellvertretend noch einige wenige namentlich zu nennen.

Das Buch hat eine wichtige Botschaft, liest sich zugleich so spannend wie ein Krimi und ist thematisch leider immer noch (oder wieder) hoch aktuell. Wittstock beschreibt mit großem Einfühlungsvermögen die Gefühlswelt der Hilfesuchenden und der Helfer, thematisiert Verlust, Trauer, Todesangst und was es bedeutet, auf der Flucht zu sein.
Ich habe bei der Lektüre viel gelernt und viel Neues über die Zeit erfahren – gerade auch über die Verhältnisse in Frankreich in diesen Jahren.

Es ist ein Buch, das berührt, betroffen macht und doch auch als Hoffnungsschimmer vor Augen führt, was mutige Menschen gemeinsam erreichen können, wenn sie versuchen, das Richtige zu tun. Während der Lektüre hallte auch Marcel Reifs Zitat aus seiner Rede im Bundestag zum Holocaust-Gedenktag dieses Jahr nach: „Sei ein Mensch“.

Denn schon im Vorwort trifft Uwe Wittstock die Leistung der Gruppe um Fry mit folgendem Satz, der sich mir unweigerlich eingebrannt hat, auf den Punkt:

„Sie gaben ein Beispiel unbeirrbarer Menschlichkeit in Zeiten denkbar größter Unmenschlichkeit.“

(S.7/8)

Besser kann man es kaum formulieren: Wittstocks Buch ist ein Appell an die Menschlichkeit und gerade deshalb so besonders wertvoll. Eine große Leseempfehlung, die von Herzen kommt!

Mit „Marseille 1940“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 24 für 2024erfüllt – Punkt Nummer 3) auf der Liste: Ich möchte ein Sachbuch lesen. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie flüssig, fesselnd und interessant auch gute Sachbücher geschrieben sein können.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim C.H.Beck Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Uwe Wittstock, Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur
C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-81490-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Uwe Wittstocks „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“:

Zum Weiterhören:
Wer die Musik von Gustav Mahler und Anton Bruckner schätzt und liebt, mag sich folgendes Szenario kaum vorstellen:

„Alle Schiffe sind längst abgefahren. Und ihre Koffer sind auf der Fahrt verloren gegangen: ein entsetzlicher Verlust, denn in einer der Taschen befanden sich kostbare Originalpartituren von Gustav Mahler und Anton Bruckner. Die wollten sie in Amerika verkaufen, um Startkapital für ihr neues Leben dort zu haben.“

(S.100)

Zum Weiterlesen (I):
Auch die Fluchtgeschichte von Anna Seghers ist Bestandteil von Wittstocks Buch und auch hier gibt es eine abenteuerliche Geschichte zu ihrem Roman „Das siebte Kreuz“, der Gott sei Dank der Nachwelt erhalten geblieben ist:

„Aber wer schleppt schon einen Stapel mit einigen hundert Blatt Papier mit sich herum, wenn er Hals über Kopf fliehen muss? Sieben Kopien vom Siebten Kreuz. Eine ist verbrannt, sechs sind verstreut zwischen Moskau und New York. Sie selbst hat keine mehr. Ihr bleibt nur zu hoffen, dass ein Exemplar gerettet wird – so wie einer von sieben Flüchtlingen in ihrem Roman.“

(S.133)

Anna Seghers, Das siebte Kreuz
Aufbau
ISBN: 978-3-351-03603-4

Zum Weiterlesen (II):
Bereits Uwe Wittstocks Buch Februar 33 – Der Winter der Literatur hat mich sehr bewegt. Ich habe es hier auf der Bowle vorgestellt und kann es ebenfalls von Herzen und voller Überzeugung empfehlen.

Uwe Wittstock, Februar 33 – Der Winter der Literatur
C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-77693-9

9 Kommentare zu „Würdigung der Fluchthelfer

  1. Das Buch steht auch weit oben auf meiner Wunschliste. Ich habe die Fluchthelfer um Varian Fry erst letztes Jahr durch die Netflix-Serie „Transatlantic“ kennengelernt und wollte unbedingt mehr darüber wissen. Gut, dass es nun die Gelegenheit dazu gibt – und noch dazu von einem so hervorragenden Autoren wie Uwe Wittstock. „Februar 33“ fand ich sehr gut.

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    1. Dann wirst Du das Buch sicher großartig finden. Ich mochte „Februar 33“ ebenfalls sehr.
      Ich hatte noch keine Vorkenntnisse bezüglich Varian Fry, aber nach dieser Lektüre kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sich das auch hervorragend verfilmen lässt… Ganz herzliche Grüße und einen guten Start ins hoffentlich entspannte und sonnige Wochenende!

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