Verlassener Seelenzwilling

1949 ist für Erika Mann ein schicksalshaftes, schreckliches Jahr, denn ihr über alles geliebter Bruder, ihr Seelenzwilling Klaus nimmt sich in Cannes das Leben. Genau in diesem schwarzen Augenblick lässt Unda Hörner ihre Leserschaft Erika Mann begegnen und ausgehend von diesem Schlüsselmoment erzählt sie in „Solange es eine Heimat gibt – Erika Mann“ die Lebensgeschichte der ältesten Tochter des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann.

Zeit ihres Lebens waren Erika und Klaus nahezu unzertrennlich, von Kindesbeinen an, als sie in München gemeinsam die Nachbarschaft aufmischten, bis hin zu ersten Kabarett- und Bühnenerfahrungen, gemeinsamen Reisen und literarischen Arbeiten, der Zeit im Exil. Erika und Klaus galten als die „literary Mann Twins“, zwischen die kein Blatt passte.

„Wenn Erika den Erfolg einem Menschen aus tiefstem Herzen gönnt, dann dem geliebten Bruder.“

(S.8)

Erfolge und Misserfolge, Freud und Leid, die Flucht vor den Nazis, gescheiterte Beziehungen, all die Höhen und Tiefen teilten die beiden Geschwister stets, ebenso wie FreundInnen, PartnerInnen und WeggefährtInnen.
Ein Leben ohne den jeweils Anderen war jenseits des Vorstellbaren.

Die Todesnachricht erreichte Erika und ihre Eltern in Stockholm. Erika fühlte sich stets auch für ihren Bruder verantwortlich. Sie wusste um seine Gefühlslage, den übermäßigen Drogenkonsum – gerade deshalb fühlte sie sich schuldig, im entscheidenden Moment nicht da gewesen zu sein, seinen Suizid nicht verhindert zu haben.

„Erika war betrübt: „Die Emigration ist traurig und unwürdig. Die Fremde ist schön, solange es eine Heimat gibt, in die man gehen kann.“

(S.61)

Wie bereits im Titel klar wird, hat Hörner aber auch einen Akzent auf die Vertreibung Erika Manns aus der Heimat bzw. ihre Zeit im Exil und ihr Verhältnis zu Deutschland gelegt. Sie schreibt über die Frau, die ihre Stimme erhob und politisch aktiv wurde, sowohl im von ihr gegründeten Kabarett „Die Pfeffermühle“ als auch in zahlreichen Vorträgen und medialen Auftritten.

„Aber Erika hatte an jenem Abend eines kapiert: Die Exilanten mussten einen Kampf führen, und sie, Erika, ihre Stimme sein. Sie musste ihr neues Leben zu einem Beruf machen: Exilantin, Emigrantin, aufklären über die wahren Gründe für den Verlust der Heimat, der vertrauten Sprache und Umgebung.“

(S.107/107)

Auch wenn ich schon einiges über die Familie Mann gelesen habe, hat mich dieses Buch dennoch wieder gepackt und berührt – vor allem aufgrund der fein herausgearbeiteten und intensiv geschilderten Geschwisterliebe zwischen Erika und Klaus. Da Hörner Erika Mann gerade im Moment des Verlusts ihres Bruders und Seelenzwillings darstellt und auch ihr Gefühlsleben, ihre Gedankenwelt und ihre Schuldgefühle detailliert beschreibt, ging die Lektüre für mich über eine klassische Biografie hinaus. Erika hatte das Gefühl, ihren Bruder im Stich und allein gelassen zu haben, seine tiefe Verzweiflung und Todessehnsucht im entscheidenden Moment nicht ernst genug genommen zu haben.

„Klaus’ Tod schickt Erika erneut in Momente grenzenloser Leere. Sie ist allein mit ihrer Trauer, ohne Trost. Es gibt ihr Du nicht mehr.“

(S.110)

„Solange es eine Heimat gibt – Erika Mann“ ist ein sehr einfühlsames, sensibles und intelligentes Buch, das in meinen Augen weit über pure Faktenvermittlung und zeitgeschichtliche Nacherzählung hinausgeht. Und Hörner versucht, in die Seele der „Literary Mann Twins“ Erika und Klaus zu blicken, ihre Beweggründe, ihre Motivation und ihre Gedanken- und Gefühlswelt einzufangen.

Hörner lässt Erika Mann in ihrer Ruhe- und Rastlosigkeit, ihrer Entwurzeltheit und ihrer Verzweiflung lebendig werden und macht nachvollziehbar, was der Tod ihres Bruders für sie bedeutete. Doch sie portraitiert auch deren unermüdlichen politischen Einsatz während der Zeit des Exils, als Kabarettistin und Vortragsreisende, sowie als enge Vertraute des Vaters. Sie würdigt Erika Mann als Künstlerin, Schriftstellerin und politisch aktive Persönlichkeit, die stets in der Öffentlichkeit stand, aber auch als private Person, Schwester und Tochter – als Teil des Familienkosmos’ der Manns.
Die gebürtige Münchnerin Erika Mann (1905 – 1969) starb 1969 in Zürich an einem Hirntumor – 20 Jahre nach ihrem Bruder Klaus und 14 Jahre nach ihrem Vater Thomas Mann.

Unda Hörners Buch gibt einen guten (für manche vielleicht auch ersten) Ein- und Überblick über Erika Manns Leben und Werk, der nicht mit trockenen Fakten langweilt, sondern sich sehr flüssig und informativ liest und auch dem Menschen hinter dem großen Namen gebührenden Platz einräumt.

Mit „Solange es eine Heimat gibt – Erika Mann“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 24 für 2024erfüllt – Punkt Nummer 13) auf der Liste: Ich möchte ein Buch, in dem Theater/Oper eine Rolle spielt, lesen. Erika stand häufig auf der Bühne, u.a. in ihrem Kabarett Pfeffermühle, aber auch in Schauspielen gemeinsam mit ihrem Bruder Klaus.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag ebersbach & simon, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Unda Hörner, Solange es eine Heimat gibt – Erika Mann
ebersbach & simon
ISBN: 978-3-86915-293-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Unda Hörners „Solange es eine Heimat gibt – Erika Mann“:

Für den Gaumen:
Der fünfzigste Geburtstag der Mutter Katja Mann wurde an der Côte d’Azur und in illustrer Gesellschaft (Feuchtwangers, Franks, Heinrich Mann usw.) gefeiert:

„Auf der Terrasse reichte das Mädchen, das aus München nachgekommen war, Hühnersalat und Weißwein, man veranstaltete Leseabende und nahm die geliebten Schallplattenkonzerte en famille wieder auf.“

(S.63)

Zum Weiterhören:
Musik spielte in der Familie Mann stets eine große Rolle. Auch bei traurigen Anlässen wie Klaus Manns Beerdigung in Cannes 1949 erklang Musik:

„Klaus’ jüngster Bruder Michael steht an der offenen Grube und spielt auf der Bratsche ein Largo von Benedetto Marcello.“

(S.19)

Zum Weiterschauen oder Weiterlesen:
Klaus Mann verfasste basierend auf Jean Cocteaus Roman „Les Enfants terribles, Die schrecklichen Kinder“ ein Bühnenstück, das er sich und seiner Schwester Erika auf den Leib schrieb:

„Am 12. November 1930 fand an den Münchner Kammerspielen die Uraufführung der Geschwister statt. Tatsächlich standen Erika und Klaus gemeinsam auf der Bühne, die Freundin Therese Giehse spielte die bodenständige Haushälterin Martha.“

(S.90)

Zum Weiterlesen (I):
Gemeinsam mit ihrem Bruder Klaus machte Erika Mann die Côte d’Azur unsicher und schrieb ein Buch darüber, das ich bereits hier auf der Bowle besprochen habe:

„Die Straßen und Gassen, durch die sie als Reisegefährten gestromert sind, die vielen Restaurants, in denen sie mit Klaus gesessen, die verlockenden Geschäfte, in denen sie eingekauft haben, 1930, als sie sich auf den Weg an die Côte d’Azur gemacht hatten, um einen Reiseführer zu schreiben, keinen braven Baedeker, sondern eine flotte Plauderei über einen Parcours entlang der französischen Riviera. Boutiquen, Bars und Brasserien, alles, was nur schräg, original und glamourös genug wäre, wollten sie den Lesern zur Nachahmung empfehlen.“

(S.50)

Erika und Klaus Mann, Das Buch von der Riviera
Büchergilde Gutenberg
ISBN: 9783763271962

oder:

Erika und Klaus Mann, Das Buch von der Riviera
Kindler Verlag
ISBN: 978-3-463-40715-9

Zum Weiterlesen (II):
Unda Hörner hat sich bei mir und vermutlich vielen anderen vor allem auch durch die feine, zeitgeschichtliche Serie über Frauen in Kunst und Kultur in den Jahren 1919, 1929 und 1939 in die LeserInnenherzen geschrieben. Den bisher letzten Band der Reihe 1939 – Exil der Frauen habe ich bereits hier auf der Kulturbowle vorgestellt und empfehle ihn wärmstens:

Unda Hörner, 1939 – Exil der Frauen
ebersbach & simon
ISBN: 978-3-86915-268-4

11 Kommentare zu „Verlassener Seelenzwilling

  1. Ich hab mich nie mit den Manns beschäftigt, aber vir ein paar Jahren gab es einen Mehrteiler im ZDF und ich war total fasziniert von der ganzen Familie und ihrem Schicksal.
    Sehr interessant deine Buchbeschreibung.😀

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    1. Dankeschön. Ich finde das Schöne an Unda Hörners Buch ist, dass man mit und ohne großes Vorwissen viel aus der Lektüre mitnehmen kann. Denn die Beschreibung der besonderen Beziehung zwischen den Geschwistern und auch Erika Manns Botschaften stehen für sich. Viele Grüße!

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    1. Lieber Bernd, gern geschehen. Es freut mich sehr, wenn Dir die Besprechung gefallen hat. Den schönen Frühlingsbeginn wünsche ich Dir selbstverständlich auch. In der Natur ist der Frühling ja schon überall zu sehen und zu spüren. Es grünt und blüht, dass es eine Freude ist. Komm gut in und über die Osterzeit, herzliche Grüße und ein schönes Wochenende! Barbara

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    1. Dankeschön, Constanze. Das freut mich und ich wünsche Dir viel Freude bei der Lektüre. Ich bin gespannt auf Deine Meinung dazu. Ich habe es sehr schnell und sehr gerne gelesen. Herzliche Grüße und ein schönes restliches Wochenende! Barbara

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