Von Waisen und Findelkindern

Waisenhäuser sind immer wieder Schauplatz von literarischen Werken – sei es zum Beispiel bei Charles Dickens („Oliver Twist“) oder bei Tiziano Scarpa („Stabat mater“). Und auch Simona Baldellis Roman „Die geheimnisvolle Freundin“ (Originaltitel: „Il pozzo del bambole“) aus dem Jahr 2023, der jetzt in deutscher Übersetzung von Elisa Harnischmacher erscheint, beginnt in einem Waisenhaus.

Lanciano, Abruzzen – der Roman beginnt in den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und wir lernen Nina kennen, die bereits seit ihrer Geburt in einem von Nonnen geführten Waisenhaus aufwächst. Ihre Eltern hat sie nie kennengelernt.

„Sie wusste nicht, wer ihre Eltern waren oder warum sie auf der Welt war. Ohne Vergangenheit war es ihr nicht möglich, eine Zukunft zu sehen, sie steckte fest in einer Gegenwart ohne Träume.“

(S.220)

Schnell merkt sie, dass es sogar im Waisenhaus eine Hackordnung gibt, ein Zwei-Klassensystem – denn es gibt Findelkinder wie sie selbst eines ist – anonym in der Drehklappe abgegeben – und Waisen, die erst später ihre Eltern verlieren und so noch eine Weile in ihrer Familie aufwachsen konnten. Letztere scheinen auch bei den Klosterschwestern einen Bonus zu haben und mehr Mitleid zu genießen, sind sie doch in deren Augen unverschuldet und ohne vermeintlich sündhaftes Verhalten der Mutter in diese Notlage geraten.

Als die traumatisierte Lucia nach dem Tod ihrer Eltern im Alter von sieben Jahren in die Einrichtung aufgenommen wird, ist es Nina, die sich ihrer annimmt. Sie nimmt Lucia an die Hand, denn für das verwöhnte Mädchen aus reichem Elternhaus ist der neue Alltag ein weiterer Schock und es gibt viel zu lernen. Trotz der großen Unterschiede freunden sich die beiden Mädchen an, bis es letztlich zu einem großen Zerwürfnis kommt und sich ihre Wege trennen.

„So kontrolliert uns die Gesellschaft: mit Klatsch und Tratsch. Die Familien ertragen die üble Nachrede nicht und zwingen die Rebellen, sich anzupassen und auf ihre Träume zu verzichten.“

(S.218)

Erst einige Jahre später werden sich die Wege der ehemaligen Freundinnen wieder kreuzen…

Baldelli thematisiert, wie sehr familiäre Verhältnisse bzw. die soziale Herkunft ein Menschenleben prägen. Wie sehr sie das Aufwachsen, die Bildung, die Interessen, die Beziehungsfähigkeit, das seelische Gleichgewicht, das gesundheitliche Wohlergehen und den finanziellen Wohlstand bestimmen bzw. das Leben auf eine Spur setzen, der man nur schwer entkommen kann.

„Wie eine Drehtür war das Leben: Kam man an der falschen Seite heraus, würde man auch dort bleiben.“

(S.199)

Die Herkunft und Kindheit geben ein oft nahezu unausweichliches Schicksal vor, das nur selten und mit viel Mühe durchbrochen werden kann. Es ist ernüchternd wie die Autorin beschreibt, welche Optionen den Kindern – vor allem auch den Mädchen und heranwachsenden Frauen – überhaupt offenstehen.

Was macht es mit einem Kind, wenn es die Eltern früh verliert oder gar nie kennengelernt hat? Baldelli beschreibt den Waisenhausalltag, erzählt behutsam und doch eindringlich über die Schicksale der Kinder, die ohne Familie aufwachsen müssen. Man liest von starren Regeln und Nonnen, die auch auf ihren persönlichen Vorteil bedacht sind. Es ist aber vor allem auch herzzerreißend zu lesen, wie sie die Besuchstage beschreibt, an welchen Paare kommen, um sich gegebenenfalls ein Adoptivkind auszusuchen. Es wird spürbar, welch große Sehnsucht nach einer heilen Familie besteht und welch verzweifelte Hoffnungen durch die Kinder darauf gesetzt werden, dieses Mal ausgewählt zu werden. Rauszukommen, raus aus dem Heim, raus ins wahre Leben.

Die Autorin hat mit viel Herzblut und Liebe zu ihrem Romanpersonal sehr empathische Charaktere geschaffen. Sie zeichnet Frauen, die sich – obwohl sie schon genug damit zu tun haben, sich um sich selbst zu kümmern – trotz alledem auch noch anderer annehmen und versuchen, im Rahmen der Möglichkeiten zu helfen.

Ich mochte es sehr, dass Baldelli auch immer wieder geschichtliche und gesellschaftliche Ereignisse des damaligen italienischen Zeitgeschehens in ihre Erzählung eingeflochten hat: da werden im Radio legendäre Fahrradrennen des Giro d’Italia verfolgt, man hört vom Tod des Papstes Johannes des XXIII., ist bestürzt über die vielen Toten durch die Flutwelle am Monte Toc und erfährt, dass die Studenten in Florenz die Aufräumarbeiten nach der großen Überschwemmung 1966 unterstützen. Doch auch Nachrichten über globale Themen und Persönlichkeiten – wie Martin Luther King oder John F. Kennedy – finden ihren Weg ins Waisenhaus.

Es ist die Zeit des Vietnamkriegs und der Studentenproteste, die 1968 auch nach Italien schwappen. Im Land brodelt es. Es ist hoher Druck auf dem Kessel. Ein wichtiges, erzählerisches Kernstück des Romans ist der Aufstand der „tabacchine“ in Lanciano, d.h. der Arbeiterinnen in der lokalen Tabakfabrik, der 1968 tatsächlich dort stattfand. Die Frauen kämpften um ihre Arbeitsplätze und für ihre Rechte.

Baldelli (Jahrgang 1963) wurde 2023 für diesen Roman mit dem italienischen „Premio Letterario Nazionale Donna Scrittrice“ ausgezeichnet. Sie hat als Frau ein Buch über Frauen geschrieben, das sich wunderbar flüssig liest, italienische Zeitgeschichte der Fünfziger und Sechziger Jahre lebendig werden lässt und das Mut macht, Gefühle zu zeigen, sich ein soziales Netzwerk zu schaffen und Freundschaften zu schließen. „Die geheimnisvolle Freundin“ ist ein Buch über geplatzte und erfüllte Träume, das zugleich ein stimmungsvolles, exemplarisches Sittengemälde Italiens in den beiden Nachkriegsjahrzehnten skizziert sowie Geschichten weiblicher Emanzipation erzählt.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Simona Baldelli, Die geheimnisvolle Freundin
Aus dem Italienischen von Elisa Harnischmacher
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0179-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Simona Baldellis „Die geheimnisvolle Freundin“:

Für den Gaumen (I):
Spezzatino gilt auch als das italienische Gulasch und steht auch im Waisenhaus auf dem Speiseplan:

„An jenem Sonntag hatte es zum Abendessen Spezzatino gegeben, eine Art Eintopf mit Fleisch, den alle sehr mochten. (…) Fleisch war nicht viel darin, aber Kartoffeln und Karotten hatten sich mit Soße vollgesogen und schmeckten so intensiv, dass sich alle genüsslich über die Mahlzeit hermachten.“

(S.77)

Ein Rezept findet man unter anderem auf LaCapucuoca.

Für den Gaumen (II):
An hohen Festtagen – auch an Mittsommer – werden in den Abruzzen Cellipieni gebacken.

„Der Teig bestand aus Mehl, Olivenöl und Wein, und die Füllung – eine Masse aus Traubenmarmelade, Kakao, Mandeln, Zimt und Zitrone – quoll daraus hervor. Die Hörnchenform erinnerte an die schmale Mondsichel am Himmel, und Nina fand, dass nichts auf der Welt den Sommer schöner hätte willkommen heißen können.“

(S.333)

Auf Nonnina’s Kitchen findet sich ein Rezept.

Für den Gaumen (III):
Ginn Fizz war auch einer der ersten Cocktails, die ich probiert habe.
Ein Rezept zur Mischung aus Gin, Zitronensaft, Zuckersirup und Soda gibt es sogar auf Wikipedia.

Zum Weiterhören:
Mir bisher unbekannt war das Siegerlied des Sanremo-Festivals 1963 „Uno per tutte“ von Tony Renis und Emilio Pericoli – im Gegensatz zu den Mädchen im Buch:

„Da sich alle Waisenhausmädchen das Stück während der Sonntagsspaziergänge vorsummten, kannten sie es in- und auswendig.“

(S.200)

Zum Weiterlesen:
Dieses Jahr ist ein gutes Jahr für starke Bücher weiblicher italienischer Autorinnen. Vor kurzem habe ich begeistert Beatrice Salvionis „Malnata“ hier auf dem Blog vorgestellt… es lohnt sich nach Italien zu blicken – auch, aber nicht nur weil es wie dieses Jahr das Gastland der Buchmesse ist.

Beatrice Salvioni, Malnata
Aus dem Italienischen von Anja Nattefort
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60271-2

Ein Kommentar zu „Von Waisen und Findelkindern

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