Im Duett nach Ascona

Lago Maggiore, Ascona – Sehnsuchtsort für Urlauber und während der Dreißiger Jahre auch Zuflucht für Intellektuelle und Künstler, die Deutschland den Rücken kehrten und ihre Heimat verlassen mussten. Zwei Romane, der gleiche Schauplatz: einer veröffentlicht als Erstabdruck in der Neuen Zürcher Zeitung im Jahr 1933 – Victoria Wolff’s „Die Welt ist blau“ und der 2021 neu erschienene Roman „Ascona“ von Edgar Rai, der jedoch die selbe Zeit behandelt und von Erich Maria Remarque’s Flucht an den See im Jahr 1933 erzählt. Victoria Wolff bekommt in seinem Roman sogar einen Gastauftritt.

„Die Welt ist überall blau. Sommerheiße, klirrend klare Luft, leuchtend grüne Wiesen; es ist, als könne man den Sommer mit den Händen greifen.“

(aus Victoria Wolff „Die Welt ist blau“, S.28)

Zwei Reisen, die sich literarisch unbedingt lohnen und auf ihre jeweils eigene und durchaus sehr unterschiedliche Art und Weise den Zeitgeist der Dreißiger und die Besonderheit des Ortes herausarbeiten und zum Leben erwecken.

Victoria Wolff (1903 – 1992) war selbst im April 1933 aus Deutschland mit ihren Kindern nach Ascona emigriert. In „Die Welt ist blau“ erzählt sie über die Urlaubsreise einer jungen Frau, die mit ihrem Liebsten zur Sommerfrische nach Ascona fährt.

Sie beschreibt die fiktive Reise im Sommer 1933 und auch die nicht immer ganz einfache Beziehung aus weiblicher Sicht – offenbart gleichsam einen Blick in die weibliche Seele. Denn die Eifersucht schwebt über der Beziehung wie so manche dunkle Wolke am blauen Himmel über dem See.

„Der Mann müßte seine Fenster weiter öffnen, denkt Ursula und legt das Buch mit Wucht aus der Hand. Er müßte sich schöner freuen können. Es gibt so wenig Menschen, die sich schön freuen können.“

(aus Victoria Wolff „Die Welt ist blau“, S.125)

Doch „Der Sommer ist blau“ ist – trotz der dunklen Schatten des Nationalsozialismus, die sich nur andeutungsweise zwischen den Zeilen erahnen lassen – ein lebensfroher und stimmungsvoller Sommer- und Urlaubsroman, der mit einer verblüffenden Wendung aufwartet.
Und so wie die junge Frau im Roman sich von einem Zauberer faszinieren lässt, so erliegt man als LeserIn dem Charme der schnörkellosen, kristallklaren und doch raffinierten Sprache Victoria Wolff’s.

„Der Mann neben ihr in einem roten Hemd und einer weißen Leinenhose sieht mit brennendem ungesundem Blick im ganzen Saal nur diese eine Frau. Sicherlich weiß er kaum, wo er sich eigentlich befindet; sicherlich verzehrt er hastig das Glück dieser Gegenwart, die ebenso knapp sein wird wie die Bluse seiner Freundin.“

(aus Victoria Wolff „Die Welt ist blau“, S.141)

Ein sehr feminines, leichtes Buch mit Witz, welches Sommergefühl und Urlaubsatmosphäre atmet und sich der Zeit und dem Ort mit einer gewissen künstlerischen Leichtigkeit nähert.

Die männliche, teilweise schwermütigere, doch nicht weniger reizvolle Sicht auf den Ort am Lago Maggiore als Zuflucht und Exil zeichnet Edgar Rai in „Ascona“ aus der Perspektive des Schriftstellers Erich Maria Remarque, der ebenfalls 1933 Deutschland verlässt. Seine jüdische Geliebte drängt ihn, das Land zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Er versucht, an seinem Roman „Pat“ weiterzuarbeiten, der später als „Drei Kameraden“ veröffentlicht werden wird, findet jedoch zunächst keine rechte Konzentration.

„Er liebte seine Künstlereinsamkeit, doch sobald er sich in sie hineinbegab, krochen die Dämonen aus den Ecken. Aber nur dann war er gut. Er musste in Gefahr schweben, wenn er verstehen wollte, worum es ihm beim Schreiben wirklich ging. Vielleicht konnte ihm jetzt etwas Großes gelingen. Der See, die Schönheit. Während man in Deutschland den Verstand verlor.“

(aus Edgar Rai „Ascona“, S.16/17)

In seinem luxuriösen Domizil am See – der Villa Casa Monte Tabor – zieht er sich zurück, erhält mäßig erwünschten Besuch von seiner Ex-Frau Jutta, quält sich mit seinem Roman. Das vermeintliche Paradies empfindet der von Depressionen geplagte Schriftsteller teils als goldenen Käfig abgeschnitten von seinem Publikum.

Doch Ascona füllt sich mehr und mehr, das Who is Who der Künstlerszene beginnt sich dort im Exil zu versammeln: Marianne von Werefkin, Tilla Durieux, Else Lasker-Schüler, Emil Ludwig und viele weitere mehr. Man trifft sich und trinkt gemeinsam im Caffè Verbano, während in Deutschland Hitler Reichskanzler wird, der Reichstag brennt, Remarque’s Bücher öffentlich verbrannt werden, Tucholsky Selbstmord begeht oder 1936 die Olympiade in Berlin stattfindet.

„In Zeiten wie diesen sollte jeder die Chance erhalten, sich durch Menschlichkeit auszuzeichnen.“

(aus Edgar Rai „Ascona“, S.61)

Auch seine besondere Beziehung zu Marlene Dietrich wird thematisiert.
Rai schafft auf gerade knapp 250 Seiten eine wichtige Zeit in Remarque’s Leben einzufangen, indem er gerade die zeitgeschichtlichen Aspekte, die Atmosphäre und die Gefühlswelt des sensiblen Autors sehr stimmig schildert und erfahrbar werden lässt.

Ich habe das Buch regelrecht verschlungen und fast in einem Rutsch gelesen, weil ich es nicht mehr aus der Hand legen konnte. Spannend und packend geht das Buch unter die Haut und findet die richtigen Worte für die schwermütige, bedrohliche und bedrückende Lage Remarque’s und seiner Künstlerfreunde im Schweizer Exil.

Es wird deutlich, dass trotz des Lebens in Sicherheit und Wohlstand der besorgte Blick ständig auf die Schicksale der Freunde und Kollegen auf der Flucht und die sich stetig verschlechternde Lage in der Heimat gerichtet hat.

„Neuerdings waren alle Gefühle wie unter einem Brennglas vergrößert. Jeder Glücksmoment von überwältigender Schönheit, jede Trauer von schicksalshafter Endgültigkeit. Ein Leben im ununterbrochenen Bewusstsein der Vergänglichkeit, von allem.“

(aus Edgar Rai „Ascona“, S.80)

Gerade der Kontrast der beiden Bücher: die weibliche Sicht und die männliche Perspektive, die sommerliche Leichtigkeit gegen die hadernde Schwermut, das unmittelbare Werk der Zeitzeugin aus dem Jahr 1933 versus dem mit zeitlichem Abstand und der nötigen historischen Distanz einordnenden Autors – das machte für mich den Reiz aus, die Bücher gleich kurz hintereinander im direkten Kontext zu lesen.

Als Gemeinsamkeit lässt sich neben dem Schauplatz sicherlich feststellen, dass ich beide Lektüren als sehr bereichernd empfunden habe und daher uneingeschränkt empfehlen kann. Beide sollten bei einer Reise an den Lago Maggiore nicht im Gepäck fehlen.

Eine weitere, feine Besprechung zu „Die Welt ist blau“ gibt es bei Birgit Böllinger.

Eine weitere, schöne Besprechung zu Egar Rai’s „Ascona“ gibt es bei Sandra von Siebenthal’s Denkzeiten.

Buchinformationen:
Victoria Wolff, Die Welt ist blau
Ein Sommer-Roman aus Ascona
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg
AvivA
ISBN: 978-3-932338-89-2

Edgar Rai, Ascona
Piper
ISBN: 978-3-492-07068-3

***

Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich die beiden Ascona-Romane:

Für den Gaumen:
Während die kulinarischen Genüsse in Victoria Wolff’s „Die Welt ist blau“ mit Ravioli à la Bolognese – lediglich der „Nebiolo“ ist schon etwas extravaganter – noch vergleichsweise bodenständig ausfallen, so wird in „Ascona“ geschlemmt:

„Greta, die italienische Köchin, mit dem wiegenden Gang, hatte Ossobuco gekocht. Dazu Safranrisotto. (…) während der Cheval Blanc unangetastet auf dem Sims stand.“

(S.64)

Zum Weiterhören:
In „Ascona“ setzt sich Erich Maria Remarque an den Bechsteinflügel seiner Freunde und spielt Schumann:

„Opus 15, die Kinderszenen, von fremden Ländern und Menschen, G-Dur, so einfach wie wahr. Gebrochene Akkorde füllten die Stille, die Hoffnung auf etwas Schönes.“

(S.65)

Zum Weiterlesen (I):
Bei mir im Regal wartet – aktuell noch ungelesen – Edgar Rai’s Roman aus dem Jahr 2019 „Im Licht der Zeit“ über die Geschichte des Films „Der blaue Engel“, auf den ich mich auch schon freue und den ich ebenso bald lesen möchte. Literarisch wieder einmal abtauchen ins Berlin der späten Zwanziger Jahre und die Welt des Tonfilms. Die Recherchen zu diesem Roman stießen den Autor auch auf die Verbindung von Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque und somit auf den Stoff für „Ascona“.

Edgar Rai, Im Licht der Zeit
Piper
ISBN: 978-3-492-05886-5

Zum Weiterlesen (II):
Und natürlich weckt „Ascona“ auch das Interesse, sich wieder einmal mit dem Werk von Erich Maria Remarque selbst auseinander zu setzen. Vor allem sein Roman „Drei Kameraden“, den ich bisher noch nicht gelesen habe, spielt in Rai’s Roman eine große Rolle.

Erich Maria Remarque, Drei Kameraden
KiWi Taschenbuch
ISBN: 978-3462046311

Zum Weiterlesen (III):
Allen, die sich mehr mit dem Thema Literatur der Dreißiger Jahre und Exilliteratur beschäftigen möchten, kann ich Uwe Wittstock’s großartiges Buch „Februar 33 – Der Winter der Literatur“ von ganzem Herzen empfehlen, das ich auch schon hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe.

Uwe Wittstock, Februar 33 – Der Winter der Literatur
C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-77693-9

Wer hingegen mehr über die Künstlerkolonien (wie z.B. Barbizon, Skagen oder Worpswede) und den Monte Verità erfahren möchte, dem kann Andreas Schwab’s Sachbuch „Zeit der Aussteiger“ eine gute Orientierung geben. Hier geht es zu meiner Rezension.

Andreas Schwab, Zeit der Aussteiger
C.H. Beck Verlag
ISBN: 978-3-406-77524-6

8 Kommentare zu „Im Duett nach Ascona

  1. Liebe Barbara,
    vielen Dank für dieses literarische Duett aus Ascona. Beide besprochenen Titel fixen mich an, weil ich früher mehrmals Ascona und den Monte Verità besuchen durfte. Von Erich Maria Remarque hatte ich mehreres gelesen: „Im Westen nichts Neues“, „Der Funke Leben“ und „Die Nacht von Lissabon“.
    Ascona und der Monte Verità waren bereits vor 1933 ein Ziel für diverse Alternative. Im Bücherregal finde ich dazu:
    – Robert Landmann, Ascona – Monte Verità. Auf der Suche nach dem Paradies. Ullstein, Frankfurt / Berlin 1985 (1979) nach Benziger Verlag, Zürich / Köln 1973
    – Friedrich Glauser, Dada, Ascona und andere Erinnerungen, Die Arche, Zürich 1976
    – Jakob Flach, Ascona. Gestern und heute, Werner Classen Verlag, Zürich / Stuttgart 1971 (1960)
    – Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Agentur für geistige Gastarbeit, Harald Szeemann u. a., Ausstellungskatalog, Lugano / Mailand 1978?
    Falls Du dies oder jenes nachschauen magst, schicke ich Dir gerne dies oder das.
    Schöne Grüße
    Bernd

    Gefällt 1 Person

    1. Danke Bernd. Es freut mich, wenn ich mit meinem Duett bei Dir schöne Erinnerungen geweckt habe. Du hast Dich offensichtlich schon viel ausführlicher mit dem Ort und seiner Geschichte beschäftigt als ich.
      Ich kann mir daher gut vorstellen, dass Dir die beiden Titel gefallen – auch wenn der Monte Verità selbst in beiden keine große Rolle spielt.
      Ich war selbst noch nicht in Ascona, aber vielleicht lässt sich diese Lücke ja irgendwann auch noch schließen.
      Herzliche Grüße nach Nürnberg! Barbara

      Gefällt 1 Person

    1. Dankeschön und sehr gerne! Das Buch hat – wie ich finde – jede Aufmerksamkeit verdient. Das mit dem blauen Sommer wünsche ich gerne und von Herzen zurück! Liebe Grüße!

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