Frei wie ein Vogel

Ein Vogelschwarm am Himmel – kaum etwas verkörpert das Gefühl oder die Sehnsucht nach Freiheit wohl ähnlich bildhaft. Das Autorenduo Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert, das sich hinter dem Pseudonym Sylvia Frank verbirgt, hat nicht nur die expressive Textzeile „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“ aus einem Song der Band Silly als Titel für ihren neuen Roman gewählt, sondern Florian L. Arnold hat zudem ein ausdrucksstarkes und symbolkräftiges Umschlagbild gestaltet: Vögel, die sich auch von geschlossenen Türen und Mauern nicht aufhalten lassen.

In Mittelpunkt des Romans stehen fünf Jugendliche in der DDR und er umspannt den Zeitraum zwischen 1977 und 1990. Siv, Aki, Anna Maria, Jens und Ivo stammen aus unterschiedlichen Familienverhältnissen, wachsen mit verschiedenen Rahmenbedingungen, ganz individuellen Problemen und auch mit besonderen Träumen, Hoffnungen und Sehnsüchten heran.

Die fünf Lebensgeschichten bieten Raum für viele Themen: Missbrauch durch den neuen Partner der Mutter, Benachteiligung von Christen, die Verpflichtung zur Armee, um an einen Studienplatz zu kommen, die Staatssicherheit und ihre Methoden, Tote an der innerdeutschen Grenze etc.
Jeder und jede ist mit eigenen Sorgen und Nöten konfrontiert – als wäre das Erwachsenwerden, die erste Liebe oder die Berufswahl nicht schon kompliziert genug.

Jugend bedeutet Sturm und Drang, Sehnsucht nach Selbstständigkeit, einem eigenen Weg und Platz im Leben – es wird spürbar, dass die jungen Menschen zunächst oft an den Einschränkungen und Grenzen scheitern. Der Traum von Freiheit und Unabhängigkeit wird immer stärker – der Widerstand und Mut wächst.

„Anna Maria stockte der Atem, während sie auf das Flugblatt starrte. In diesem Moment wurde ihr bewusst, das sie etwas tun wollte. Der Zustand der Pleiße war nur eines der augenfälligsten von vielen regionalen Umweltproblemen. Dieser stand symbolisch für die ökologische Tragödie im gesamten Land.“

(S.138)

Und doch sind es – trotz der besonderen zeitliche Umstände – auch einfach nur Heranwachsende, die Musik lieben, Urlaub machen, feiern und sich verlieben wollen.
Man begleitet die jungen Leute zu den legendären Schauplätzen und unvergesslichen Ereignissen, an welchen große Geschichte geschrieben wurde: z.B. in die Prager Botschaft, als Hans-Dietrich Genscher seine berühmten Worte spricht, die im Jubel untergehen oder zu den sich öffnenden Schlagbäumen mitten in Berlin kurz nach Schabowskis Pressekonferenz.

„Anna Maria erreichte jetzt den Mittelgang, wo im Kirchenraum die kannelierten, blassrosa Säulen mit ihren Palmenkapitellen, aus denen hellgrüne Blätter emporragten, erhaben in die Höhe strebten. Sie suchte sich weiter einen Weg zwischen den Menschen hindurch, die jetzt in dichten Trauben vor ihr auf den Steinfliesen saßen. (…) Ihr Blick glitt jetzt über die blassen, nachdenklichen Gesichter in den Bankreihen: in vielen erkannte sie ein stilles Einvernehmen, von einem scheuen und dennoch mutigen Lächeln begleitet. Aber auch verhaltene Skepsis begegnete ihr, Zweifel und schlecht verborgene Unsicherheit.“

(S.237)

Gerade die Szenen, welche die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche und die Montagsdemonstrationen beschreiben, sind sehr berührend und vermitteln die aufgeheizte und doch hoffnungsvolle Atmosphäre.

Wie in einem literarischen Fotoalbum werden bedeutungsvolle Schicksalsmomente der deutsch-deutschen Geschichte festgehalten.

Es geht Schlag auf Schlag, die Handlung entwickelt – trotz der häufigen Schauplatz- und Perspektivwechsel zwischen den Figuren – einen enormen Sog und liest sich flüssig und schnell, weil ungeheuer viel passiert in diesem Roman.
Die Autoren haben ein lebendiges, quirliges und pralles Buch voller Geschichten und Schlüsselszenen geschrieben und die Jugendlichen zu den Momenten begleitet, an welchen Weichen gestellt, sich Wege gegabelt oder die weitere Zukunft entschieden hat. Zeitgleich mit dem großen Umbruch und der Wende in der deutschen Geschichte, nehmen auch die Lebenswege der ProtagonistInnen völlig neue Wendungen.

Die fünf Lebensgeschichten der jungen Menschen sind noch lange nicht auserzählt und bieten viel Potenzial für weitere Entwicklungen und Schicksale, so dass es nur folgerichtig erscheint, dass bereits eine Fortsetzung voraussichtlich für das Frühjahr 2024 angekündigt wird. Es wird sicher spannend zu lesen, wohin es die fünf nach dem Mauerfall verschlagen wird und was das Leben für sie noch an Überraschungen bereithält – denn jetzt können sie gleichsam „mit den Vögeln ziehn“.

Meine Neugier auf den nächsten Band ist zweifelsohne geweckt, denn ich habe „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“ wirklich gerne und gebannt gelesen. Das Autorenduo hat es gekonnt verstanden, lebensechte und spannende Charaktere zu entwickeln, mit denen man gerne seine Lesezeit verbringt.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Mirabilis Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Sylvia Frank, Nur einmal mit den Vögeln ziehn
Mirabilis Verlag
ISBN: 978-3-947857-18-0

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Sylvia Franks „Nur einmal mit den Vögeln ziehn“:

Für den Gaumen:
Sommerurlaub am Balaton – da dürfen Lángos nicht fehlen – der im Fett gebackene Fladen aus Hefeteig – ist eine besondere Spezialität der ungarischen Küche.

Zum Weiterhören (I):
Der Titel des Romans „Nur einmal mit de Vögeln ziehn“ ist eine Zeile aus dem Song „Bye bye“ der Band Silly – geschrieben von Tamara Danz. Für mich natürlich ein Grund, gleich mal in den Song reinzuhören.

Zum Weiterhören (II):
Ein besonderes Geschenk ist die legendäre Jazzplatte „Kind of Blue“ von Miles Davis:

„Die Platte galt als Meilenstein in der Geschichte des Jazz.
‚Wo habt ihr die bloß her‘, stammelte er und zog ungelenk die Musikerkollegen, einen nach dem anderen, an sich heran.“

(S.172)

Zum Weiterschauen:
Jenseits von Afrika“ – der mehrfach oscarprämierte Film von Sydney Pollack aus dem Jahr 1985 mit Meryl Streep, Robert Redford und Klaus Maria Brandauer – und vor allem die Picknickszene mit Grammophon wird zu einer Kultszene für die Jugendlichen – ist aber auch ein großartiger Film. Lange her, dass ich ihn gesehen habe.

Zum Weiterlesen (I):
Anna Maria mag die Bücher des ungarischen Autors Sándor Márai. In Deutschland war Ende der Neunziger Jahre vor allem die Wiederentdeckung seines Romans „Die Glut“ besonders erfolgreich – ein Werk, das ich bisher noch nicht gelesen habe. Das wäre ja vielleicht eine gute Variante für meine Ungarn-Station der literarischen Europareise (Europabowle) – das behalte ich mal im Hinterkopf.

Sándor Márai, Die Glut
Übersetzt von Christina Viragh
Piper
ISBN: 978-3-492-23313-2

Zum Weiterlesen (II)
Ein in jeder Hinsicht lesenswertes Buch, das mich bei der Lektüre sehr berührt hat und das die friedliche Revolution in Leipzig, die Montagsdemonstrationen und vor allem die Friedensgebete in der Nikolaikirche aus erster Hand beschreibt, ist die Autobiografie des Pfarrers Christian Führer „Und wir sind dabei gewesen: Die Revolution, die aus der Kirche kam“.

Christian Führer, Und wir sind dabei gewesen: Die Revolution, die aus der Kirche kam
List
ISBN: 9783548609843

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