Das Meer, der Ozean, die Wellen, die Brandung – man hat sofort ein Bild vor Augen und bei vielen Menschen ruft das Meer große Emotionen hervor. Für mich ist es stets etwas Besonderes, am Meer zu sein, über das Wasser auf den Horizont zu schauen. So hat mich auch der Titel von Roxanne Bouchard’s Roman „Der dunkle Sog des Meeres“ sofort angesprochen und entpuppte sich als intensives, maritimes Leseerlebnis, das auf der Gaspésie-Halbinsel in der kanadischen, französischsprachigen Provinz Québec spielt.
„Cyrille sagte, das Meer sei wie eine gesteppte Patchworkdecke. Mit Sonnenfäden aneinandergenähte Wellensplitter. Es verschlinge die Geschichten der Menschen und verdaue sie langsam in seinem kobaltblauen Bauch, bis nur noch verzerrte Spiegelbilder an die Oberfläche stiegen.“
(S.14)
Catherine ist dreiunddreißig Jahre alt und ausgebrannt. Ihre Adoptiveltern sind verstorben, sie leidet unter Depressionen und einer Leere in ihrem Leben. Ihr Arzt rät ihr zu einem Urlaub, einer Auszeit, einem Tapetenwechsel und sie entscheidet sich dazu, einer ungewöhnlichen Einladung nachzugehen, welche sie vor kurzem erreicht hat und in den kleinen Fischerort namens Caplan in der Gaspésie führt.
Dort angekommen trifft sie die mysteriöse Absenderin des Briefes Marie Garant – ihre leibliche Mutter – jedoch nicht an. Vielmehr trifft sie auf kauzige Fischer, die versuchen, den widrigen Umständen rückgängiger Fangmengen und der rauen Natur zu trotzen. Schon bald wird die Leiche von Marie Garant im Meer gefunden. Doch der Tod der erfahrenen Seglerin gibt Rätsel auf.
Joaquín Morales ist gerade eben erst ins Dorf gezogen und für den Polizisten wird der ungeklärte Todesfall zu seiner ersten Ermittlung in der neuen Position. Er ist vor kurzem fünfzig geworden und kämpft mit dem Älterwerden, seiner Lebenssituation und um seine Ehe. In seinem Leben ist einiges ins Wanken gekommen und nun lassen ihn auch noch die Einheimischen gehörig auflaufen. Für den Zugezogenen ist es es nicht leicht, die Wahrheit von Seemannsgarn und Schauermärchen zu trennen und die verschlossenen Fischer und Einwohner des Dorfes machen ihm das Leben und die Ermittlungen nicht leichter.
„Die Leinen, die uns wirklich festhalten, Catherine, sind nicht aus Nylon gemacht. Die kann man nicht lösen.“
(S.185)
Roxanne Bouchard hat einen spannenden Roman mit interessanten Charakteren verfasst, der den Leser zudem auf jeder Seite die Gischtkronen auf den Wellen sehen und die frische Meeresbrise atmen lässt. Das kauzige Unikum Cyrille wächst mit seinem sarkastisch-herbem Charme nicht nur Catherine, sondern auch dem Leser ans Herz und ist ebenso liebenswürdig und fein gezeichnet, wie der ermittelnde Joaquín Morales, den es als gebürtigen Mexikaner der Liebe wegen zunächst in die kanadische Großstadt verschlagen hat und der nun in der Provinz – von einer gehörigen Mid-Life-Crisis geplagt – noch einmal einen Neuanfang wagen will oder muss.
Die Autorin wechselt zwischen umgangssprachlicher Lockerheit in den Dialogen und unglaublich intensiven Naturbeschreibungen. Selten habe ich so viele ausdrucksstarke, eindringliche Bilder und atmosphärische Beschreibungen des Meeres in so konzentrierter Form gelesen. Die ungezähmte Gewalt des Ozeans und die zerstörerische Kraft wird ebenso deutlich wie die Schönheit und die Faszination, die niemanden mehr loslässt, der ihr einmal verfallen ist.
„Nur wo das Meer tanzt, fühle ich mich zu Hause.“
(S.228)
Das Buch wird auf dem Umschlag als Roman – nicht als Kriminalroman – bezeichnet und auch für mein Empfinden war es kein reiner, klassischer Krimi. Neben den Ermittlungen und der Kriminalhandlung gibt es noch zahlreiche weitere Aspekte, die ebenfalls eine Rolle spielen. Für Spannung ist aber definitiv gesorgt und der Sog, der bereits im Titel steckt, entfaltet sich auch bei der Lektüre.
Sergeant Morales hat sicherlich das Zeug dazu, zum Serienhelden zu werden – in ihrer Heimat hat Bouchard bereits zwei weitere Bände veröffentlicht. Kanada ist das Gastland der diesjährigen Buchmesse und aufgrund der spektakulären Natur sicherlich Sehnsuchtsort und attraktive Kulisse auch für deutsche Leser, so dass hoffentlich auch die weiteren Bände noch übersetzt werden.
Auf jeden Fall bietet der Roman eine gute Möglichkeit, für einige Stunden die stürmische See zu spüren, die schroffe und schöne Landschaft der kanadischen Küste in Gedanken zu bereisen und sich zumindest literarisch ans Meer entführen zu lassen.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Atrium Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Roxanne Bouchard, Der dunkle Sog des Meeres
Aus dem Französischen von Frank Weigand
Atrium Verlag
ISBN: 978-3-85535-113-8
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Roxanne Bouchard’s „Der dunkle Sog des Meeres“:
Für den Gaumen:
Auch im Roman wird das Johannisfest am 23. Juni gefeiert, das gerade erst hinter uns liegt. Und zwar mit „Krustentierpasteten und Erdbeertörtchen“ und „Grillfleisch“ (S.144). Wenn allerdings der gebürtige Mexikaner Joaquín Morales eine Frau beeindrucken möchte, kocht er Paella und weil das Meer vor der Haustür liegt, natürlich auch diese mit Meeresfrüchten.
Zum Weiterschauen und Weiterklicken:
Wunderbare Bilder, welche häufig die Farben des Meeres widerspiegeln und für mich immer ein Fest für die Sinne sind, finden sich auf dem schönen, lesens- und sehenswerten Blog der Künstlerin Manuela Mordhorst. Persönlich gefallen mir gerade die maritim inspirierten Gemälde in Blau- und Türkistönen besonders gut, wie zum Beispiel „Weite Horizonte“. Es lohnt sich, sich selbst einmal ein Bild von diesem Blog zu machen und sich inspirieren zu lassen.
Zum Weiterlesen:
Bei maritimer Literatur kommt mir sofort der dicke Schmöker „Wir Ertrunkenen“ des Dänen Carsten Jensen in den Sinn. Mit über über 800 Seiten wahrlich kein Leichtgewicht, erzählt er eindrucksvoll, was es in vergangenen Zeiten bedeutete, am und vom Meer zu leben.
Carsten Jensen, Wir Ertrunkenen
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Penguin
ISBN: 978-3-328-10264-9
Dann schick ich dir mal sonnige Meer-Grüsse aus Andalusien!
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Oh, wie schön! Das freut mich sehr. Dankeschön! Grüße mir das Meer und genieße die Zeit in Andalusien!
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Das mache ich gerne ☀️🍀
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Mir kommt gerade eine sehr widersprüchliche Frage: Sollte man einem Serienhelden, der wirklich das Zeug zum Serienhelden hat, wünschen, ein Serienheld zu werden? Wer unbegrenzt serientauglich ist, ist allerdings das Meer.
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Über diese philosophische Frage muss ich ein wenig nachdenken. Der Autorin wünsche ich auf alle Fälle, dass sie mit ihrem Joaquín Morales weiterhin Erfolg hat, denn die Figur ist interessant angelegt, mit Ecken und Kanten und einer Geschichte, die sich noch gut weiter erzählen lässt… Aber ob man es dem Serienheld selbst wünschen sollte? Hm, vielleicht sollte er kein „Frauenheld“ werden, sondern vielmehr ein „Held“ im Sinne von: „Er löst die Fälle, die er in seinem Beruf als Ermittler auf seinen Schreibtisch bekommt.“
Und was das Meer betrifft kann ich Dir nur beipflichten: unbegrenzt, grenzenlos und immer wieder schön.
Ich wünsche Dir ein wunderbares Wochenende! Viele Grüße nach Berlin!
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Auch ich wünsche Autoren grundsätzlich Erfolg. Eine Ausnahme bilden nur die, welche dem Leser schaden. Ich denke, wenn ein Autor seinen Figuren Respekt entgegenbringt, statt sie zu manipulieren, überstehen sie auch eine Serie einigermaßen unbeschadet. Dir auch ein schönes Wochenende. Ich werde es nutzen, um mich von diesen blöden Tabletten zu „entgiften“. Stehe immer noch ein bisschen neben mir.
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Dann wünsche ich Dir vor allem ein erholsames Wochenende und gute Besserung!
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Das macht augenblicklich Lust zum Lesen. Dieses Jahr wird es wohl nichts mehr bei mir mit einem Urlaub an der See. Aber das Meer ist ja ein Freund, der warten kann.
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Dankeschön! Ja, das stimmt, das Meer hat einen langen Atem – eine schöne Formulierung: der „Freund, der warten kann“. Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende!
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Liebe Barbara, klingt wieder nach einem spannenden Roman. Und ich bedanke mich herzlich für die Verlinkung in deinem Blog. Viele liebe Grüße dir und ein zauberhaftes Wochenende wünsche ich dir. Manuela
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Liebe Manuela, sehr gerne. Das Verlinken war mir eine Freude und eine Ehre. Deine Bilder passen einfach wunderbar zu dieser maritimen Lektüre. Dir auch ganz herzliche Grüße, ein schönes Wochenende und viel Erfolg bei Deiner aktuellen Ausstellung! Barbara
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Herzlichen Dank für deine Rezension. Witziger Weise wohnen wir direkt am Meer, zwar in East Anglia, aber vor vielen, vielen Jahren hatten wir ein Haus in Gaspésie.
„Wir Ertrunkenen“ hat uns gut gefallen, diesen Roman kannten wir nicht, obwohl wir Literatur über das Meer sammeln.
Alles Gute
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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Für mich waren in diesem Fall sowohl die Autorin als auch die Region eine neue Entdeckung – mit Gaspésie bin ich zuvor noch nicht in Berührung gekommen. Und auch das Meer sehe ich nur ab und zu während einer Urlaubsreise, aber für mich ist es daher vermutlich immer auch etwas ganz Besonderes. Herzliche Grüße ans Meer nach Cley!
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