Stoffgespür

Mein Lesejahr 2025 beginnt mit A wie Arenz. Keine Angst, ich werde mich jetzt nicht von A bis Z durchs Alphabet lesen, das war schlicht und ergreifend Zufall. Beziehungsweise war der Grund für diese Auswahl wohl vielmehr der Wunsch, mit einem ruhigen, wohltuenden Buch ins neue Jahr zu starten. Das ist mir geglückt. Denn „Zwei Leben“ von Ewald Arenz ist ein gefühlvolles, warmherziges und lichtes Buch, an dem man sich festhalten kann.

Schon das wundervoll gestaltete Umschlagbild verrät, dass wir es nicht mit einem Großstadtroman zu tun haben. „Zwei Leben“ spielt in den Siebziger Jahren in einem fränkischen Dorf. Roberta, die als einziges Kind einmal den Bauernhof der Eltern übernehmen soll, ist gerade von einer Schneiderlehre in der Stadt nach Hause zurückgekehrt. Ernüchtert musste sie feststellen, dass sie die modischen Kreationen, die ihr durch den Kopf schwirren, in der Textilfabrik nicht umsetzen konnte – der Stoff ihrer Träume ist ein anderer.

„In der Stadt, wenn sie die Rasen mähten, roch es manchmal so ähnlich, aber es war nur wie eine müde Erinnerung an diesen kraftvollen und zugleich lichten Geruch, der Frühling hieß. Man sollte ein Kleid aus diesem Duft machen können. Es müsste, natürlich, grün sein aber durchsetzt von farbigen Flecken wie Blüten und schmalen, hellen Streifen wie letztjährige Weizenhalme.“

(S.7)

Doch immerhin sieht sie dort auch Wilhelm wieder, den Pfarrerssohn aus der Nachbarschaft, der nach dem Abitur seinen Zivildienst antreten wird. Der Musterschüler, idealistische Träumer und langhaarige Wehrdienstverweigerer, der sich plötzlich vom Freund und Kumpel zur großen Liebe ihres Lebens verwandelt, obwohl sie doch unterschiedlicher nicht sein könnten:

Roberta, die auf dem Hof des wortkargen, sturen Vaters in ihrer Kindheit wenig Zärtlichkeit und Zuwendung erfahren hat, stets mit anpacken muss und körperliche Arbeit nicht scheut, die sich jedoch im Geheimen weg sehnt von diesem Dorf und den Verpflichtungen, die sie festhalten.

Und Wilhelm, der geliebte und behütete Sohn der Pfarrersleute, der sich zu Hause wohlfühlt, obwohl er fürs Studium wird weggehen müssen. Sohn des vergeistigten Dorfpfarrers, der es sehr zum Leidwesen seiner Frau Gertrud – einer gebürtigen Hamburgerin – nicht geschafft hat, Karriere zu machen und daher seit viel zu langer Zeit im Dorf festhängt.
Gertrud liebt ihren Sohn. Doch sie wird aufgrund ihres Stils und ihres Verhaltens, im Dorf auch nach Jahren noch als unangepasste Städterin und Außenseiterin gesehen und behandelt. Seit langem wünscht sie sich mehr Kultur, mehr Reisen, mehr großstädtisches Flair und mehr Leben – ein anderes Leben.

Bei der Lektüre schwebt ständig die drohende, graue Gewitterwolke bereits über dem Feld, das noch nicht abgeerntet ist, und man spürt bzw. ahnt, dass bald etwas Schlimmes passieren wird.

Zwei Frauen, zwei Generationen, zwei Lebensträume und Lebensentwürfe, zwei Leben. Roberta und Gertrud sind die Hauptfiguren, um die sich die Geschichte entwickelt. Wilhelm ist als große Liebe der Einen und Sohn der Anderen das verbindende Element.

Dürfte ich jedoch einen Oscar für den besten Nebendarsteller vergeben, würde in diesem Buch meine Wahl ganz ohne Zweifel auf Robertas Großvater fallen. Der lebensweise und erfahrene Austragsbauer, der so viel erlebt hat und erst spät und nur mit seiner Enkelin darüber sprechen kann und der versucht, sie auf ihrem Weg zu bestärken. Er ist der Anker, das erdende Element, der Ruhepol, der im Herzen jung geblieben ist.

„Die innere und die äußere Roberta, hatte der Opa einmal gesagt, die passen nicht recht zusammen. Warum?, hatte sie damals gefragt. Der Opa hatte lächelnd die Schultern gehoben. Wenn du es selber nicht merkst. Aber dann hatte er gesagt, dass es kein anderes Mädchen im Dorf gab, für das der Himmel nicht einfach blau war. Dass sie sehen konnte, dass er an jedem Tag ein anderes Blau hatte und sie die richtigen Wörter dafür fand. Veilchenblau und Gewitterblau und Lavendelblau und Kirchenblau und Augenblau.“

(S. 99)

Ich mochte das Setting und die Zeit – diese Siebziger auf dem Dorf: Die Schilderungen der Abläufe und Tätigkeiten auf dem Hof, der Blick auf handwerkliche Traditionen, den kreativen Aspekt der Erzählung.
Arenz hat Roberta als inspirierte und schaffensfreudige Figur mit großem Talent gezeichnet, der es gelingt, aus Eindrücken und Ideen in ihrem Kopf, Wirklichkeit werden zu lassen. Die ihre Kreativität lebt und – unterstützt und bestärkt vom Großvater – auch gegen Widerstände umsetzen kann.

All das erzählt und formuliert der Autor in einer sehr sinnlichen und bildhaften Sprache voller Farben und Gerüche, die schwelgen lässt.
Seit „Alte Sorten“ verfolge ich das Werk des fränkischen Autors, der immer noch in Teilzeit als Lehrer an einem Nürnberger Gymnasium arbeitet. Und wer dieses Werk, das sicherlich seinen Durchbruch darstellte und wochen- bzw. monatelang auf den Bestsellerlisten stand, mochte, der wird auch „Zwei Leben“ wieder zu schätzen wissen.

Denn es gibt durchaus einige Parallelen zwischen den beiden Romanen: das Dorf bzw. der ländliche Raum als Schauplatz, die Abgeschiedenheit, der jugendliche Wunsch nach Aufbruch, die Lebenserfahrung der Älteren, die aber eben auch mal jung waren oder überraschende Aspekte aus der Vergangenheit, die plötzlich ans Licht kommen – um nur ein paar Punkte zu nennen.

„Sie hatte gar nichts, und dass sie irgendwann mal nach Paris… es musste ja nicht mal Amerika sein, Frankreich würde ihr reichen… dass sie da irgendwann mal hinkäme, danach sah es nicht aus. Es müsste gar nicht für immer sein. Aber was hatte der Opa gesagt? Die beste Zeit im Leben. Eine beste Zeit im Leben wollte sie auch.“

(S.67)

Ewald Arenz hat über die Jahre seinen eigenen Stil entwickelt, bleibt diesem treu und hat ein großartiges Gespür für Stoffe, Geschichten und vor allem die Figuren in seinen Romanen. Arenz ist ein Menschenfreund, ein begnadeter Erzähler mit einem großen Herzen und einem feinen Gespür für das Zwischenmenschliche, die psychologische Komponente. Seine Gabe ist es, lebensbejahende Bücher zu schreiben, die an das Gute im Menschen glauben und auch die Leserschaft daran glauben lassen.

Vielleicht mag Arenz für manchen Lesergeschmack etwas zu viel Weichzeichner verwenden, doch für mich war „Zwei Leben“ auf jeden Fall ein gelungener, würdiger Start ins neue Lesejahr.
„Zwei Leben“ thematisiert die großen Themen des Menschseins: Liebe und Tod, Lebensträume und Schicksalsschläge, den Mut, etwas zu verändern, aber auch die Gelassenheit, manche Dinge anzunehmen und zu akzeptieren wie sie sind. Glück und Schmerz liegen nah beieinander.
Ein traurig-hoffnungsfroher Roman, der mich wirklich berührt und der mich wieder aufs Neue sehr für den Autor eingenommen hat. Denn es ist ein feines, sehr wertschätzendes Buch, das nicht nur das Herz am rechten Fleck hat, sondern auch Ethik, Haltung, Werte und Nächstenliebe in den Mittelpunkt stellt.

Buchinformation:
Ewald Arenz, Zwei Leben
Dumont
ISBN: 978-3-8321-8205-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Ewald Arenz‘ „Zwei Leben“:

Für den Gaumen:
Ja, und als hätte ich es geahnt, passt auch noch der kulinarische Inhalt zu meinem Blog und dem Jahreswechsel:

„Gertrud trug die Schale mit der Bowle nach oben. Wilhelm hatte sich Bowle gewünscht. Manchmal musste sie über ihn lächeln. Bowle zu Silvester. Das war so altmodisch… und so typisch für ihn. Wahrscheinlich hatte er das in irgendeinem Buch gelesen und fand es schick.“

(S.163)

Zum Weiterhören:
Während auf der Dorfkirchweih „Schöner fremder Mann“, „Rose Garden“ oder „Mrs. Robinson“ (S.96) gespielt werden, gibt es auf der privaten Silvesterfeier der jungen Leute „die besten Hits, von den Beatles und Rolling Stones“ (S.168).

Zum Weiterlesen:
Durch Alte Sorten bin ich vor einigen Jahren auf Ewald Arenz aufmerksam geworden und habe das Werk ebenfalls bereits hier auf dem Blog vorgestellt. „Zwei Leben“ erinnerte mich wieder sehr an diese Lektüre und kommt der damaligen Leseerfahrung sehr nahe.

Ewald Arenz, Alte Sorten
Dumont
ISBN: 978-3-8321-6530-7

16 Kommentare zu „Stoffgespür

  1. Mein Lesejahr fing 2025 mit Enid Blyton an.
    Ich habe ein Kinderbuch von Ihr zwischen meinen Büchern entdeckt und einfach angefangen zu lesen.
    „Die schwarze Sieben auf der Fährte.“ Da uch die Dame als Kind schon immer verschlungen habe.

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  2. Die durchwachsenen Rezensionen haben mich davon abgehalten, „Die Liebe an miesen Tagen“ zu lesen, aber ich glaube „Zwei Leben“ bekommt wieder eine Chance. „Alte Sorten“ und „Der große Sommer“ mochte ich immerhin beide ziemlich gerne.

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    1. Mich persönlich hat „Zwei Leben“ definitiv wieder mehr an „Alte Sorten“ erinnert und ich fand es persönlich auch wieder stärker als „Die Liebe an miesen Tagen“. Ich habe „Zwei Leben“ gerne (und auch schnell) gelesen, vielleicht solltest Du ihm wirklich eine Chance geben. Herzliche Grüße!

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      1. Das ist witzig. Den neuen Haas habe ich am vergangenen Wochenende gelesen.🙂
        Allerdings etwas ganz Anderes… fast schon ein literarisches Experiment!
        Da muss man beim Lesen konzentriert bleiben, dass einem nicht schwindlig wird.
        Bin gespannt, was Du berichten wirst. Herzliche Grüße! Barbara

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      2. Absolut, da ist beim Lesen wirklich Konzentration gefordert, um beim Hin-und Her“wackeln“ immer auf der Höhe des Geschehens zu sein. Wirklich raffiniert gemacht. Und das Cover ist Programm. 🙂

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  3. Also dann gäbe es ja noch viel mehr für dich von Arenz zu entdecken. Der große überregionale Durchbruch gelang Arenz zwar mit „Alte Sorten“, geschrieben hat er aber schon viel länger. Mein absolutes Lieblingsbuch von ihm ist allerdings Alte Sorten, das ist eine ganz andere Liga als die Romane zuvor, wobei auch diese den warmen Arenz-Ton besitzen und die Lektüre macht Spaß

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