Poesie als Schutzraum

Der Januar hat für mich lektüretechnisch wirklich einen Traumstart hingelegt, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gleich sehr früh im Jahr bereits ein Jahresglanzlicht für 2025 gelesen habe. Denn der Debütroman „In Memoriam“ von Alice Winn (Jahrgang 1992) hat mich unfassbar berührt – sprachlich wie inhaltlich. Ein Buch über die Liebe und den Krieg, in diesem Fall die Liebe zwischen den beiden jungen Männern Sidney Ellwood und Henry Gaunt, die zunächst gemeinsam ein britisches Eliteinternat besuchen, dann jedoch als Soldaten in den Ersten Weltkrieg ziehen müssen.

Ich habe das Buch, das im deutschen unter dem Titel „Durch das große Feuer“ erschienen und erhältlich ist, im englischen Original gelesen. Daher sind dieses Mal ausnahmsweise auch die zitierten Textstellen in englischer Sprache. Und wie immer, wenn mich ein Buch so von den Füßen holt und begeistert wie dieses, sind es viele – mehr als üblich – und selbst hier musste ich noch eine Auswahl treffen, die mir nicht leicht gefallen ist. Ich bitte also um Nachsicht.

Ellwood und Gaunt sind Schüler der Oberstufe eines englischen Internats. Ellwood begeistert sich für Gedichte, kann unzählige davon auswendig rezitieren und liefert sich mit seinem besten Freund Gaunt, der für die alten Griechen schwärmt, gern schlagfertige Dialoge bzw. das liebenswerte, übliche Gefrotzel zwischen Jungs. Was sich liebt, das neckt sich. Denn zwischen den beiden knistert es, ohne dass sie sich trauen, ihre Gefühle zu offenbaren, denn schließlich soll Ellwood ja Gaunts Schwester Maud heiraten und Gaunt kämpft dagegen an, sich auch körperlich zu Ellwood hingezogen zu fühlen.

Als der erste Weltkrieg ausbricht, sind beide formal noch zu jung, sich für den Kriegsdienst zu melden. Und doch gibt es im Internat unter den Jungen kaum ein anderes Thema, ob und wann sie sich freiwillig melden werden.
Bei Gaunt ist es seine deutsche Mutter, die ihn dazu bringt, sich als Soldat zu melden, um etwaigen Anfeindungen durch das Umfeld aus dem Weg zu gehen und so ein klares Bekenntnis zum englischen Vaterland abzulegen. Doch ihn plagen Albträume, an der Front plötzlich seinen Münchner Cousins gegenüber zu stehen und sie gegebenenfalls töten zu müssen.

„You are not afraid of dying, Henry. You’re just opposed to killing. That isn’t cowardice.“

(S.21)

Während Gaunt schon bald in den Schützengräben in Belgien die grausamen Schrecken und Gräuel dieses Krieges durchleben muss, bleibt Ellwood zunächst am Internat zurück. In der Schülerzeitung werden nun regelmäßig die Nachrufe, die dem Buch den Titel „In Memoriam“ gegeben haben, auf die gefallenen und verwundeten Mitschüler veröffentlicht. Und doch können es viele Jungen, obwohl sie noch nicht das geforderte Alter haben, kaum erwarten, sich freiwillig zu melden, um den Mitschülern an der Front beizustehen.

Mir bislang unbekannt war die Symbolik des Überreichens einer weißen Feder (in einem Wikipedia-Artikel kann man mehr darüber erfahren), welche von Frauen und Mädchen an junge, kräftige Männer öffentlich überreicht wurden, um ihnen Feigheit zu attestieren bzw. sie so dazu zu bringen, sich zu schämen bzw. dann für den Kriegsdienst zu registrieren.

„He did not know that it was the first thing homesick little boys in their dormitories learn at boarding school: how to cry in silence.“

(S.190)

Gaunt versucht, in seinen Feldpostbriefen Ellwood davon abzuhalten, sich zu melden und doch zieht es den Freund ebenfalls bald an die Front.
Alice Winn beschreibt das Elend in den Schützengräben, das Leid, die Gewalt, die Angst und die Unmenschlichkeit des Krieges. Es sind drastische Szenen, die sie schildert und die unter die Haut gehen. Ypern, Loos, Somme – es sind die Orte, die für größtes Leid und die unzähligen Todesopfer des Krieges stehen, die auch im Roman zum Schauplatz werden.

„We must censor the mud and the rats, but God is allowed to remain, which strikes me as ironic. It is a dull job, but less odious than the other: writing condolences. Over and over again, about men I know, or men I don’t, about men who died valiantly, or men who died in ways I refuse to describe, men I liked and men I didn’t, men too old to go to war, and boys too young.“

(S.47)

Die Liste der Opfer in der Schülerzeitung wird länger und länger, die Jungen schreiben sich Briefe von der Front und müssen auch immer häufiger die traurige Pflicht übernehmen, den Angehörigen in Briefen den Tod ihrer Söhne und Brüder mitzuteilen.

Alice Winn, die in Paris aufgewachsen ist und selbst britische Internate besucht hat, hat für ihren Debütroman unter anderem den Jugendliteraturpreis 2024 und den British Book Award 2024 als „Book of the Year“ gewonnen.
Mit Ellwood und Gaunt hat sie ein literarisches Paar geschaffen, das einem sofort ans Herz wächst. Wie sie die zarten Gefühle und die sich anbahnende Liebesgeschichte beschreibt, ist herzzerreißend schön.

„Do you always have a poem for everything?“
„Of course.“

(S.101)

Man leidet und fiebert mit den beiden und möchte sie – gerade in der anfänglichen Euphorie und der irrigen Annahme der Krieg würde bald enden – oft am liebsten schütteln und zur Vernunft bringen.

„Will you write about me when I die, Elly?“
„Yes,“ said Ellwood.

(S.134)

„In Memoriam“ ist ein eindringlicher, abschreckender Appell gegen Krieg und Gewalt, aber auch ein sehr sensibler, gefühlvoller und emotionaler Roman über die Liebe zwischen zwei jungen Männern.

„And it was a magical thing, to love someone so much; it was feeling so strange and slippery, like a sheath of fabric cut from the sky.“ (S.115)

Ein tiefgründiges, reiches und kluges Buch über große Gefühle und emotionale Ausnahmezustände, das einem die Tränen in die Augen treibt und das im tiefsten Inneren berührt. Nicht zuletzt aber auch eine Ode an Lyrik und Poesie und die Kraft des Wortes – herzzerreißend und ein ganz besonderes Buch, das ich wirklich wärmstens empfehlen kann! Tieftraurig und dennoch wunderschön zu lesen.

Eine weitere begeisterte Besprechung des Romans gibt es bei Bingereader.

Buchinformation (der englischen Ausgabe, die ich gelesen habe):
Alice Winn, In Memoriam
Penguin
ISBN: 978-0-241-56783-8

in deutscher Übersetzung:
Alice Winn, Durch das große Feuer
Aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp und Benjamin Mildner
Eisele
ISBN: 978-3-96161-189-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Alice Winns „In Memoriam“:

Für den Gaumen (I):
Am Tag, als der Krieg ausbrach, waren Gaunt und Ellwood noch auf einer Gartenparty in London – die Leichtigkeit in kulinarischer Form symbolisiert durch „strawberries and cream“ (S.19), d.h. Erdbeeren mit Sahne – ein Klassiker, der bis heute auch beim Tennisturnier in Wimbledon gereicht wird – verfliegt danach schnell.

Für den Gaumen (II):
Ausgehungert und gezeichnet von den Strapazen des Krieges wird bei der Rückkehr in die Heimat bodenständige und nahrhafte Kost benötigt, wie zum Beispiel „Shepherd’s Pie“:

„(…) reminded himself not to inhale his shepherd’s pie (he was still always, always hungry)“

(S.333)

Was das ist, kann auf Olasuniverse nachgelesen werden.

Zum Weiterlesen (I):
Lyrik ist für Ellwood eine Art Lebenselixier und er hat für jede Lebens- und Stimmungslage – ja einfach für alles – das richtige Gedicht parat. Gedichte sind sein Schutzraum und seine Art, sich auszudrücken, sich vielleicht auch manchmal hinter den Worten Anderer zu verstecken. Auch Shakespeares Sonette bieten hier für ihn einen reichen Schatz, aus dem er schöpfen kann.

„He knew the lines Ellwood had quoted. They were from Shakespeare’s Sonnet 20. Elwood had written them in pencil on the wall above Gaunt’s bed, and Gaunt had hoped they meant something.“

(S.42)

Shakespeare, Die Sonette (Zweisprachige Ausgabe)
Deutsch von Christa Schuenke
dtv
ISBN: 978-3423124911

Zum Weiterlesen (II):
Wie ein roter Faden ziehen sich Passagen aus den Gedichten von Lord Alfred Tennyson (1809-1892) durch den Roman. Eines seiner berühmtesten Werke trägt den selben Titel wie Winns Roman „In Memoriam A.H.H.“ (1850), eine elegische Klage, in welcher er den Tod eines Freundes bedauert.

„Tennyson?“ asked Gaunt, although he knew the answer.
„Yes. In Memoriam A.H.H.“
„Poem written upon the death of a friend.“, said Gaunt.“

(S.134)

Alfred Lord Tennyson, Selected Poems
Penguin Classics
ISBN: 978-0140424430

***

I hold it true, whate’er befall;
I feel it when I sorrow most;
‚Tis better to have loved and lost
Than never to have loved at all.“

(aus Lord Alfred Tennyson „In Memoriam A.H.H.“, Canto XXVII)

9 Kommentare zu „Poesie als Schutzraum

  1. Das hört sich großartig an und wandert umgehend auf die Wunschliste. Ich musste beim Lesen Deiner Buchvorstellung an „Der Klang der Erinnerung“ von Jo Browning Wroe denken. Andere Zeit zwar, aber auch zum Teil in einem englischen Internat angesiedelt und ebenfalls ein wunderbares Buch.

    Hab einen schönen Sonntag!

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    1. „Der Klang der Erinnerung“ liegt noch auf einem meiner Stapel mit ungelesenen Büchern und das macht mir jetzt richtig Lust, das Buch bald zu lesen. Dankeschön!
      Ich fand Winns Buch wirklich großartig – ein Ausnahmebuch in meinen Augen. Bleibt zu hoffen, dass da nach diesem grandiosen Debüt hoffentlich bald wieder Neues von der jungen Autorin kommen wird. Herzliche und heute auch mal sonnige Sonntagsgrüße aus Niederbayern!

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  2. So eine schöne Rezension 🙂 Alice Winns Roman war einer meiner absoluten Highlights im letzten Jahr. Soo soo gut. Vielen lieben Dank für die Verlinkung. Ich freue mich, dass dir das Buch ebenso gut gefallen hat. Liebe Grüße, Sabine

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    1. Sehr gern geschehen, Constanze.
      In diesem Fall bin ich mir wirklich sehr sicher, dass Du das Buch mögen wirst.
      Es ist wirklich etwas Besonderes. Und jedes Buch auf der Wunschliste oder auf dem Stapel ist ja auch wieder ein kleines Versprechen für weiteren Lesegenuss! 🙂
      Herzliche Grüße! Barbara

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    1. Gerne, liebe Pega. In diesem Fall war es mir ein besonderes Anliegen und es freut mich, wenn ich dem Buch hoffentlich ein wenig gerecht werden konnte. Herzliche Grüße ins Allgäu aus dem winternebligen Niederbayern! Barbara

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