Wenn das Totenglöckchen klingt

Dieser Januar und der Start ins Lesejahr 2025 ist wirklich unglaublich. Wieviele Leseglanzlichter passen in einen Monat? Denn schon wieder habe ich ein Buch gelesen, das mein Herz im Sturm erobert hat und über das ich hier unbedingt erzählen möchte. Kennt Ihr das Gefühl, wenn schon nach den ersten Seiten klar ist, dass man ein Buch lieben wird? So ging es mir mit „Im Schnee“ des fränkischen Autors Tommie Goerz. Ich wage mich an die zugegeben frühe Prognose, dass es (auch wenn noch über elf Lesemonate kommen) sicher zu meinen Lieblingsbüchern dieses Jahres gehören wird. Zudem passt es – auch wenn es draußen für Schnee gerade zu warm ist – auch perfekt in diese Zeit.

„Längst hatte der Schnee alles bedeckt. Die Äste, das Gras, den Weg, sogar den schmalen Spitzen der Zaunlatten hatte er Hütchen aufgesetzt. Er ließ sich Zeit. Max hatte also am Fenster gestanden, hinausgesehen und gelauscht. Nichts machte die Welt so ruhig wie der fallende Schnee. Und so friedlich, so sanft.“

(S.10)

Ein verschneites Dorf in Franken. Die Stille wird durch das Totenglöckchen durchbrochen. Es läutet für den Schorsch. Der Schorsch war Max bester Freund. Ein Leben lang waren sie befreundet und jetzt heißt es Abschied nehmen. Max lebt alleine in der Abgeschiedenheit dieser kleinen Ortschaft, die er schon von Kindesbeinen an seine Heimat nennt. Kein Radio, kein Fernseher, ab und zu ein Besuch in der letzten verbliebenen Dorfwirtschaft.

„Hier? Hier gibt es gar nichts mehr. Keinen Laden, keinen Bäcker, keinen Metzger. Haben wir früher alles gehabt. Sogar mal einen Schmied, einen Schuster, drei Wirtshäuser, einen Wagner, einen Daubner und einen Korbflechter ganz früher und was weiß ich. Jetzt bringt mir der Mane mein Zeug mit. Ein einziges Wirtshaus ist noch da, der Stangl. Der macht aber nur zweimal die Woche auf.“

(S.28)

Doch jetzt heißt es Totenwache halten – für den Schorsch. Die Männer und die Frauen treffen sich im Haus des Verstorbenen, stehen der Witwe in der schweren Stunde bei, trösten sich gegenseitig und erzählen sich Geschichten. Geschichten über den Schorsch und das Leben im Dorf.

Das ist Tradition. Tradition wie die Hofnamen, welche die neu Zugezogenen aus dem Neubaugebiet nicht verstehen, oder wie das Kräuterbuschenbinden zu Maria Himmelfahrt. Da werden Erinnerungen ausgetauscht an den längst geschlossenen Dorfladen, in dem noch Heringe aus dem Holzfass, selbst gemachter Senf, saure Gurken lose oder frisches Sauerkraut verkauft wurden. Oder an die Sache mit der Dorfschule…

„Ja, manchmal kam ihm das Leben im Dorf vor wie bestehend aus Kreisen – Kreise, in die man von außen nicht hineinkam. Das Dorf war ein Kreis, jeder Hof, jede Familie bildete einen Kreis und jeder einzelne bildete für sich selber einen Kreis. Alles war hermetisch abgeschlossen und nicht zu durchdringen.“

(S.108/109)

Es ist eine kleine Welt, eine geschlossene Gesellschaft, die sich nur selten für andere öffnet. Doch für den jungen Fotografen Janis, der so fasziniert ist von Max’ einfacher Lebensweise, macht er eine Ausnahme, serviert ihm seinen selbst gepflückten und getrockneten Kräutertee, den man in keinem Supermarkt bekommt, lässt sich sogar von ihm fotografieren.

„Alles wurde anders, und sowieso war für jeden alles anders. Die Zeit stehen geblieben? Die raste doch wie nie, jeden Tag, man kam ja kaum hinterher. Und meine Welt soll klein sein? Kennst Du denn meine Welt? Die ist so riesengroß, da komme ich ja selber gar nicht rum.“

(S.155/156)

Doch wie wird diese Welt jetzt ohne den Schorsch sein? Ohne den Freund, der immer da war?

Tommie Goerz (Jahrgang 1954), der bisher hauptsächlich durch Krimis von sich reden machte, blickt selbst auf ein abwechslungsreiches Leben zurück. Er war lange in der Werbebranche tätig, hat aber auch schon als Hüttenwirt im Tessin und als Wahlkampfmanager gearbeitet.

Mit „Im Schnee“ hat er sich wieder auf neues, literarisches Terrain begeben und ein ganz wunderbares, leises und zeitloses Buch geschrieben. Er beschreibt eine untergehende Welt, die es nicht mehr gibt, schildert Bräuche und Traditionen, den dörflichen Zusammenhalt, der allerdings auch Ab- und Ausgrenzung bedeutet.

Sein Roman ist ein wahres Schatzkästchen und eine Fundgrube für zauberhafte Zitate, die sich tief ins Bewusstsein und ins Herz schreiben.

„Dabei gab es nichts, was man nicht reparieren konnte. Nur die Zeit war es, die so viel kostete. So war es doch heute: Geld hatten sie alle, nur Zeit hatten sie nie. Sie tauschten ihre Zeit für Geld, aber jammerten dann, dass sie keine Zeit mehr hatten – und dass man die nicht kaufen konnte.“

(S.128)

Doch Goerz romantisiert nicht, verkitscht nicht, beschönigt nichts. Da wird nicht das Leben auf dem Land oder dem Dorf verherrlicht oder glorifiziert. Längst ist nicht alles friedlich, nicht alles eitel Sonnenschein. Die Schneedecke deckt auch so manches unschöne Geheimnis zu, dämpft die Wahrnehmung von Konflikten und begangenen Fehlern.

Goerz hat ein sehr feinsinniges, tiefgründiges Buch geschrieben, bei dem vieles ganz subtil unter der Oberfläche brodelt und nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. „Im Schnee“ ist eines dieser leisen, stillen Bücher, die um so länger nachhallen. Ein Roman – wie aus der Zeit gefallen – der mit gerade einmal 173 Seiten wie geschaffen ist für einen langen Winterabend. Ein aufrichtiges, ehrliches und geerdetes Buch über den Tod, Abschied und Trauer – besinnlich, melancholisch, traurig und doch auch so wunderschön! Ein echtes Herzensbuch!

Buchinformation:
Tommie Goerz, Im Schnee
Piper
ISBN: 978-3-492-07348-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Tommie Goerz‘ „Im Schnee“:

Für den Gaumen (I):
Oft sind es die einfachen Dinge und Gerichte, die Leib und Seele zusammenhalten. Das weiß auch der Max:

„Irgendwann holte er den Topf Restsuppe aus der Speisekammer und stellte ihn auf den Herd. Rindfleischbrühe mit Nudeln von gestern, die würde ihn von innen wärmen. Ein Ei hineingeschlagen und mit einem Stück Brot war es ihm genug. Er brauchte ja nicht mehr viel.“ (S.13)

Für den Gaumen (II):
Und auch bei der Totenwacht will für das leibliche Wohl der TeilnehmerInnen gesorgt sein:

„Sie wollte ihnen Würstchen machen für später, irgendetwas Einfaches gab es immer bei der Totenwacht, was nicht viel Arbeit machte. Würstchen oder Fleischküchlein oder kalte Schnitzel, Kartoffelsalat oder Nudelsalat, Brot.“ (S.47)

Zum Weiterlesen:
Mich hat das Buch sehr an Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ erinnert. Wer die unaufgeregte, ruhige, stille Geschichte in der Abgeschiedenheit – in Seethalers Fall – der Bergwelt mochte, der wird sicherlich auch an Tommie Goerz’ „Im Schnee“ Gefallen finden:

Robert Seethaler, Ein ganzes Leben
Goldmann
ISBN: 978-3-442-48291-7

18 Kommentare zu „Wenn das Totenglöckchen klingt

    1. Sehr gerne, es freut mich riesig, wenn ich Deine Neugier auf das Buch wecken konnte. Geteilte Freude ist ja bekanntlich doppelte Freude und ich mochte dieses stille Büchlein wirklich sehr. Herzliche Grüße in den schönen Norden! Barbara

      Like

    1. Liebe Sabine! In meinem Fall hat die Empfehlung durch die Buchhändlerin meines Vertrauens den entscheidenden Ausschlag gegeben. Und das Büchlein hat dann sofort mein Herz erobert – gerade das Leise, Subtile mochte ich sehr. Herzliche Grüße und eine gute Woche! Barbara

      Gefällt 1 Person

    1. Das freut mich, Anna. Ich fühlte mich auch immer wieder an „Tage mit Felice“ erinnert, das Du ja auch gerne mochtest. Daher könnte diese fränkische Variante vielleicht auch gut für Dich passen 🙂 Herzliche Grüße! Barbara

      Like

  1. Dein Lesemonat ist ja recht fränkisch geprägt. 😊

    Das Buch steht auch auf meinem Wunschzettel – mal schauen, ob ich es noch lesen kann, bevor der Winter endgültig vorbei ist.

    Gefällt 1 Person

    1. Das stimmt! Mit Arenz und Goerz sind gleich zwei Franken vertreten diesen Monat. 🙂
      Was den Winter angeht… da kann bis März/April noch alles passieren… ❄️☃️
      Aber ich habe übrigens auch Deine Empfehlung bzw. Erinnerung mit Jo Browning Wroe „Der Klang der Erinnerung“ gleich am Wochenende umgesetzt. Wirklich schön! Sehr berührend!
      Herzliche Grüße und eine gute Woche!

      Like

  2. Ich muss zugeben, dass mich der Titel Deines Beitrags zunächst mehr faszinierte, als der Titel des Buchs. „TotenglöckCHEN“ nimmt dem Wort ‚Tod‘ wunderbar die Schwere. Nach Lesen Deiner Rezension scheint es mir ganz so, dass mir auch das Buch gefallen wird. Liebe Grüße. Birgit

    Gefällt 1 Person

    1. Dankeschön, Birgit!
      Es ist nicht immer leicht, einen passenden Titel für meine Rezensionen zu finden. In diesem Fall hat mich aber auch diese Auftaktszene im Roman gleich sehr berührt und etwas in mir zum Klingen gebracht.
      Ich habe das Buch wirklich sehr gerne gelesen und kann mir gut vorstellen, dass es Dich auch berührt. Herzliche Grüße! Barbara

      Gefällt 1 Person

  3. Das klingt wunderbar. Ich habe mich gleich in den ersten Zeilen wiedergefunden, besser gesagt, meine Kindheit.
    Und ja, es gibt sie noch, die Bücher, deren erste Seite einen umhaut (hab auch heute eines gefunden)
    Liebe Grüße
    Nina

    Gefällt 2 Personen

    1. Sehr schön, Nina. Dann werde ich die Augen auf Deinem Blog (wie immer) offen halten und hoffen, dass Du uns bald auch mehr zu Deiner literarischen Entdeckung erzählst.🙂
      „Im Schnee“ hat mich wirklich sehr berührt, daher empfehle ich es auch gerne weiter. Herzliche Grüße! Barbara

      Gefällt 1 Person

  4. Liebe Barbara, nach „Im Tal“ habe ich „Im Schnee“ nun auch gelesen. Mir fällt noch gar kein stimmiger Ausdruck ein, vielleicht: eine berückende oder betörende Lektüre. Du hattest das Buch sehr trefflich vorgestellt. Unter den zahlreichen reizvollen Details fand ich auch den Blüten- und Kräutertee sehr köstlich. Gesegnete Adventszeit und herzliche Grüße, Bernd

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Bernd, ich mochte „Im Schnee“ sehr. Und „Im Tal“ liegt hier noch ungelesen bei mir und wartet auf den richtigen Moment. Aktuell bin ich bei den Lektüren noch eher adventlich und weihnachtlich unterwegs. Es freut mich, wenn meine Rezension hier den richtigen Ton getroffen hat.
      Und ja, für guten Tee bin ich auch immer zu haben und jetzt im Advent sowieso.
      Herzliche Adventsgrüße und danke für Deinen Leseeindruck! Barbara

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse eine Antwort zu schreibundsprich Antwort abbrechen