Italienisches Inselgefängnis

Die nächste Station meiner Europabowle oder „Literarischen Europareise“ ist Italien: Bella Italia. Aber Francesca Melandri präsentiert uns in ihrem zweiten Roman „Über Meereshöhe“ nicht das sonnige Urlaubsland und „la dolce Vita“, sondern sie bringt dem Leser einen völlig anderen geschichtlichen Aspekt ihres Heimatlandes näher.

Der Roman spielt Ende der Siebziger bzw. zu Beginn der 80er Jahre, welche auch in Italien als „bleierne Jahre“ in die Geschichte eingehen, die geprägt sind von Terroranschlägen und der Entführung und Ermordung Aldo Moro’s im Jahr 1978.
Der italienische Staat betreibt ein Hochsicherheitsgefängnis auf einer Insel.
Namentlich erwähnt wird die Insel im Roman nicht – es könnte sich jedoch um die auch noch heute als Gefängnis genutzte Insel Gorgona vor der toskanischen Küste handeln.

„Denn will man jemand wirklich absondern vom Rest der Welt, gibt es keine Mauer, die höher wäre als die See.“

(S.33)

Im Roman sitzen dort Schwerverbrecher, Mörder und Terroristen ihre langjährigen Haftstrafen ab. Besuche sind aufwändig, erfordern viel Zeit und gut geplante Logistik und so treffen Paolo und Luisa zum ersten Mal auf dem Schiff aufeinander, das sie zur Insel bringt. Beide besuchen dort ihre inhaftierten Angehörigen: Paolo seinen Sohn, Luisa ihren Ehemann.

Als sich ein gewaltiger Sturm zusammenbraut, der ihre Rückfahrt ans Festland verhindert, bleiben die beiden über Nacht unfreiwillig auf der Insel zurück. In dieser Ausnahmesituation kommen sich die beiden näher und erzählen sich ihre Geschichten, entdecken Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

„Ihm schien es nicht unmöglich, dass alle lebenden Geschöpfe vor dem Sturm geflohen und nur sie drei zurückgeblieben waren: er, die Frau und der Vollzugsbeamte, der sie begleitete.“

(S.128)

Luisa, die zupackende, patente und lebenstüchtige Bäuerin, die gemeinsam mit ihren fünf Kindern nach der Verurteilung ihres Mannes den Hof nun alleine bewirtschaften muss und mit beiden Beinen im Leben steht. Sie führt ein einfaches Leben voll harter Arbeit, die sie ablenkt, fordert und die Schmerzen und Demütigungen zeitweise vergessen lässt, die sie durch ihren Mann erleiden musste. Fürsorglich bereitet sie gefüllte Ravioli zu, die sie mit ins Gefängnis bringt und genießt die erste Überfahrt auf dem Meer, das sie zuvor noch nie gesehen hatte, zumal ihr Mann erst vor kurzem auf die Insel verlegt wurde.

Und da ist Paolo, der leidet, mit seinem Schicksal hadert und es nicht wahrhaben will geschweige denn verstehen kann, wie ausgerechnet sein Sohn zum Terroristen werden konnte, der Menschenleben auf dem Gewissen hat. Seine Frau ist beraubt vom Lebenswillen früh an Krebs gestorben und hat ihn in all seinem Kummer allein gelassen. Der früh pensionierte Lehrer, der Frau und Sohn verloren hat, wird durch die ungewohnte Situation und die Begegnung mit Luisa aus seiner dunklen Routine gerissen.

Nach einem aus der Not geborenen Abendessen bei einem der Vollzugsbeamten und dessen Frau, die von ihrem außergewöhnlichen Leben auf der Gefängnisinsel erzählen, bereiten sich die beiden auf eine improvisierte Nacht an diesem stürmischen Ort vor. Ein Abend und eine Nacht, die das Leben der beiden und ihre jeweilige Sicht darauf für immer verändern wird.

Ein Buch wie ein Kammerspiel: wenige handelnde Personen, eine abgeschlossene Situation mit düsterem, bedrohlichem Wetter und einem außergewöhnlichen Schauplatz. Es handelt sich um ein wahrlich intensives Leseerlebnis, das den Figuren und ihren Lebensschicksalen großen Raum lässt, obwohl der Roman gerade mal 252 Seiten besitzt. Ein zutiefst menschliches und philosophisches Buch, das große Fragen stellt: Wie geht man damit um, einen nahen Verwandten (z.B. Sohn oder Ehemann) zu haben, der schwere Schuld auf sich geladen hat und im Gefängnis sitzt? Kann man verstehen? Vergeben? Wie lebt man weiter? Kann man selbst wieder Frieden und Ruhe finden?

Für mich ein Roman, den ich mir auch sehr gut in einer Adaption für die Bühne vorstellen könnte. Ein packender Stoff, der zum Nachdenken anregt.

Francesca Melandri hat für mich einmal mehr bewiesen, dass sie die ganz große Gabe besitzt, zeitgeschichtliche Stoffe aus der italienischen Geschichte der vergangenen Jahrzehnte in erstklassige Romane umsetzen zu können. Nach „Eva schläft“ und auch dem neuesten Werk „Alle außer mir“, hat mich auch „Über Meereshöhe“ vollständig überzeugt, gepackt und fasziniert. Ihr untrügliches Auge für menschliche Schicksale und die hervorragende Personenzeichnung in einer wunderbaren, stimmigen Sprache (hier sei auch die gelungene Übersetzung von Bruno Genzler explizit erwähnt) machen den Roman zu einem wahren Lesegenuss und Gewinn.

Melandri hat mit diesem Roman meine Neugier geweckt, mich noch mehr in die italienische Geschichte einzulesen und zugleich ein Buch geschrieben, das Herzenswärme und tiefe Menschlichkeit ausstrahlt. Leserherz, was willst Du mehr?

Buchinformation: (in meinem Fall eine ältere Ausgabe)
Francesca Melandri, Über Meereshöhe
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
Heyne
ISBN: 978-3-453-41109-8

oder neu bei Wagenbach:
Francesca Melandri, Über Meereshöhe
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
Wagenbach
ISBN: 978-3-8031-2812-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Über Meereshöhe“:

Für den Gaumen:
Auf der Insel duftet es nach den Feigen an den Bäumen. Eine reife Feige – womöglich sogar frisch vom Baum gepflückt – das hat etwas Paradiesisches und schmeckt für mich immer sofort nach Urlaub.

Zum Weiterhören:
Wenn wir im Rahmen der „Europabowle“ schon in Italien angelangt sind, was würde da besser passen als Paolo Conte’s „Via con me“? Ich würde mich freuen, wenn ihr mit mir kommt und mich auf meiner „literarischen Europareise“ weiter begleitet.

Zum Weiterklicken und Weiterlesen:
Auf ihrem Blog Tuttopaletti lässt uns Anke in stimmungsvollen und unterhaltsamen Beiträgen daran teilhaben, was es bedeutet, als gebürtige Deutsche in Italien zu leben. Ihre Seite begleitet mich stets mit Amüsantem, Nachdenklichem und Lesenswertem, lässt mich gedanklich ins schöne Italien reisen und zaubert mir so oft südliches Flair und Urlaubsstimmung in mein Wohnzimmer.

Zum Weiterlesen:
Italien hat bisher bereits sechs Literaturnobelpreisträger vorzuweisen (Giosuè Carducci, Grazia Deledda, Luigi Pirandello, Salvatore Quasimodo, Eugenio Montale und Dario Fo).
Doch ich möchte heute statt einem Werk der Nobelpreisträger trotzdem noch einmal Francesca Melandri empfehlen, denn bereits ihr erster Roman „Eva schläft“ hat mich unglaublich beeindruckt und sich tief in mein Gedächtnis gegraben. Ein großartiges Buch über Südtirol und die politisch aufgeheizten Zeiten dieser teils hin- und hergerissenen Region, das einem hilft, den geschichtlichen Hintergrund besser zu verstehen. Wunderbare Literatur in einer sehr schönen Sprache.

Francesca Melandri, Eva schläft
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
Wagenbach
ISBN: 978-3-8031-2805-8

17 Kommentare zu „Italienisches Inselgefängnis

  1. Liebe Barbara, deine Buchempfehlung weckt meine Neugier, zumal ich schon von der Autorin und ihren anderen Werken „gehört“ hatte, jetzt gibt es keine Ausrede mehr! Vielleicht traue ich mich in diesem Fall an das Original, nachdem ich zuletzt immer deutsch gelesen habe, darunter einige deiner Empfehlungen.
    Vielen lieben Dank für deine netten Worte zu meinem Blog!
    Buona serata! 😊 Ciao Anke

    Gefällt 1 Person

    1. Cara Anke! Sehr, sehr gerne. Dein Blog begleitet mich schon fast meine ganze Zeit als Bloggerin und zu meiner literarischen Europareise und meinem Abstecher nach Italien hat das einfach wunderbar gepasst. Buona serata! Liebe Grüße, Barbara

      Gefällt 1 Person

    1. Liebe Nicole! Schön, dass ich wieder mal einen Treffer gelandet habe und hoffentlich nicht enttäuschen werde. 😉 Ich wünsche Dir einen wunderbaren Abend oder – wenn wir schon beim Italienischen sind: buona serata und herzliche Grüße!

      Gefällt 1 Person

  2. Liebe Barbara,
    danke für Deine Lektüre mit Beigaben. Die Perspektive der angehörigen Besucherinnen.
    Der Bayerische Rundfunk hatte gerade einen Besuch auf der australischen Gefängnisinsel Port Arthur, schrecklich und heute ein Touristen-Ziel.
    Lange her, 1982, trafen wir mit unserer Reisegruppe Angehörige von Gefangenen, die auf Robben Island in Kapstadt, Südafrika, einsaßen.
    Inseln traumatisch mit den Gefängnissen – andere Inseln besucht und geträumt.
    Herzlich Bernd

    Gefällt 1 Person

    1. Gerne, Bernd. Die Autorin macht im Roman sehr klar, dass diese Insel nichts Romantisches und Verklärtes hat. Vielmehr ist der abgeschiedene und einsame Charakter im Roman in Verbindung mit der bedrohlichen Wetterkulisse wohl auch der Grund und die Voraussetzung dafür, dass die Angehörigen der Inhaftierten „fernab von ihrem Alltag“ ihre Lebenssituation reflektieren. Herzliche Grüße!

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar