Norwegischer Freiheitssommer

Heute mache ich mit meiner Europabowle bzw. literarischen Europareise Station in Norwegen und zwar in der wunderschönen Hauptstadt Oslo. Die Autorin Toril Brekke entführt uns mit ihrem Roman „Ein rostiger Klang von Freiheit“ ins ereignisreiche und turbulente Jahr 1968. Nur wenige Jahreszahlen wecken sofort ähnlich intensive Assoziationen.

Agathe steht kurz vor dem Abitur und lebt gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder Morten bei ihrem Vater. Die Mutter – eine Jazzsängerin – hat die Familie vor einigen Jahren im Stich gelassen und hat sich mit einem Bassisten nach Kopenhagen abgesetzt. Die Kinder leiden darunter, keinerlei Kontakt zur Mutter zu haben – die Unverbindlichkeit der Beziehungen in ihrem Leben sind belastend. Sie suchen nach Nähe und Verlässlichkeit – doch beide auf unterschiedliche Art und Weise.

1968 ist ein politisch aufgeheiztes Jahr und auch Agathe und ihre Freunde gehen auf die Straße und beginnen sich mehr und mehr mit Politik zu beschäftigen. Einige ihrer Schulkameradinnen und -kameraden beschließen sogar, die Schule zu verlassen und auf ein neues Versuchsgymnasium zu wechseln.

Und auch Agathe beschließt schließlich auf eigene Faust heimlich – ohne ihren Vater oder die Großeltern zu informieren – ihrem traditionell-konservativen Gymnasium den Rücken zu kehren und ihr Abitur auf der neuen Schule, die nach Summerhill-Prinzipien gestaltet ist, zu machen. Sie taucht ab in eine völlig andere Welt: Hier streichen Schüler selbst die Räumlichkeiten, sollen freiwillig die Schule besuchen und lernen – weniger Zwänge, mehr Selbstbestimmung und Eigeninitiative.

Doch in Agathe’s Leben ändert sich nicht nur die Schulform, sondern als ein Bekannter ihr für einige Monate seine Wohnung überlässt, zieht sie auch von zu Hause aus. Sie verdient sich an einer Würstchenbude eigenes Geld. Sie verliebt sich. Ihren Bruder und die Familie sieht sie nur noch selten – 1968 wird für sie das Jahr der Freiheit und der Veränderung.

„Was ist so komisch?, fragte Onkel Jacques.
Dass es einen Unterschied gibt zwischen Freiheit und Freiheiten, sagte Leon.
Ich erklärte, Freiheit sei Freiheit. Freiheiten dagegen könnten Beleidigungen sein, sogar Übergriffe. Es gibt Leute, die glauben, sie hätten die Freiheit, andere schlecht zu behandeln, sagte Leon.“

(S.317/318)

Es gibt viele Heimlichkeiten und Abgründe in Agathe’s Familie. Da wurde vieles totgeschwiegen und verdrängt. Dunkle Familiengeheimnisse kommen nach und nach ans Licht, die das Leben der Geschwister entscheidend verändern und dazu führen, dass sie viele Ereignisse der Vergangenheit besser verstehen.

Die ganz große Stärke in meinen Augen ist die regelrecht spür- und greifbare, dichte Atmosphäre des Romans, die Toril Brekke – mit feinem Blick und sensiblem Gespür für Stimmungen und Milieus – erschafft. 1949 als Tochter eines Dichters in Oslo geboren und in Künstlerkreisen aufgewachsen, kann sie für diese Schilderungen wohl sicher auf ihren persönlichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Denn 1968 war sie 19 Jahre alt – in einem ähnlichen Alter wie ihre Heldin Agathe.

Der Roman atmet in jeder Zeile die Luft der 68er: Es geht um Jugendkultur, Musik, Bücher und Lebensstil. Die hitzigen politischen Diskussionen, die aufgeheizte Stimmung in Studentenkreisen, Proteste gegen den Vietnamkrieg, Demonstrationen – das ist der zeitliche Hintergrund und die Bühne, auf der Brekke ihre Geschichte ansiedelt.

Im Mittelpunkt stehen junge Menschen, die aus- und aufbrechen wollen, die Freiheit und Wahrheit suchen, auch wenn dies manchmal mit Schmerzen einhergeht.

„Er hat etwas über Freiheit gesagt, meinte Oma, dass die Freiheit, die sich jemand nimmt, für jemand anderes Schmerz bedeuten kann.“

(S.213/214)

Denn Freiheit bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Und eine Entscheidung für etwas oder jemanden zu treffen, bedeutet oft auch sich gegen etwas Anderes oder jemanden entscheiden zu müssen.

Auch Agathe selbst, die immer noch darunter leidet, dass ihre Mutter sie so früh verlassen und im Stich gelassen hat, muss nun selbst erfahren, was es bedeutet, Brücken abzubrechen und Beziehungen zu vernachlässigen. Brekke’s Charaktere sind Menschen aus Fleisch und Blut, haben Stärken und Schwächen – das macht sie so lebensnah und authentisch. Deshalb liest sich die Geschichte ausnehmend glaubhaft, flüssig und spannend, denn es geht um wahrhafte Menschen – niemand ist vollkommen.

Ein wirklich packendes und grandioses Buch, das den Zeitgeist perfekt einfängt und eine Familiengeschichte mit viel Licht und Schatten erzählt – ohne jedoch destruktiv oder hoffnungslos zu sein. Vielmehr erlebt man Aufbruch und Blick nach vorn – ob bei Agathe oder ihrem Bruder Morten. Beide suchen und gehen ihren Weg, auch wenn er stellenweise steinig ist.


Eine weitere Besprechung gibt es auf Zeichen & Zeiten.

Die bisherigen Stationen meiner Europabowle oder Literarischen Europareise haben mich nach Finnland, Irland, Italien, Österreich, Dänemark, Rumänien, Griechenland, in die Schweiz, nach Spanien, Slowenien, Frankreich und Schweden geführt – wer neu auf die Kulturbowle gelangt ist und noch weiterreisen oder nachlesen möchte, was bisher geschah, kann dies auf den farbig hinterlegten Länderbezeichnungen gerne tun. Weitere Stationen sind in Planung und werden folgen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag STROUX edition, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Toril Brekke, Ein rostiger Klang von Freiheit
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
STROUX edition
ISBN: 978-3-948065-22-5

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Toril Brekke’s „Ein rostiger Klang von Freiheit“:

Für den Gaumen:
Während Agathe bei gemeinsamen Café-Besuchen mit Freunden eher bodenständig bei Heißwecken (hier gibt es übrigens ein schönes Rezept auf Jeanny’s Blog Zucker, Zimt und Liebe) und Cola bleibt, gibt es bei der etwas mondäneren Einladung durch den Großvater „Räucherlachs, Rührei und einen Chablis“ (S.216).

Zum Weiterhören:
Agathe’s kleiner Bruder wird mit seinen Freunden zum glühenden Beatles-Verehrer und trägt stolz seine selbstgenähte Seargant Pepper-Jacke. Das Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ ist 1967 erschienen und enthält unter anderem die Songs „Lucy in the Sky with Diamonds“, „With a little help from my friends“ oder aber auch „When I’m Sixty-Four“.

Zum Weiterlesen (I):
Agathe liest gerne und viel. Von ihrer Cousine Madeleine, die in Frankreich lebt, hat sie Françoise Sagan’s Roman „Bonjour tristesse“ (1954) geschenkt bekommen – eine Bildungslücke, die ich vielleicht auch mal schließen sollte.

Françoise Sagan, Bonjour tristesse
Aus dem Französischen von Rainer Moritz
Ullstein Taschenbuch
ISBN: 9783548290836

Zum Weiterlesen (II):
Der stumme Frühling“ von Rachel Carson aus dem Jahr 1962 gilt für viele als wichtiges Werk und Initialzündung der Umweltbewegung. Auch Agathe kommt im Roman mit dem Werk in Berührung. Leider hat das Sachbuch auch nach 60 Jahren noch nichts von seiner Aktualität eingebüßt, warum sich eine Lektüre wohl auch heute noch lohnen würde:

Rachel Carson, Der stumme Frühling
Aus dem Amerikanischen von Margaret Auer
C.H.Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-73177-8

14 Kommentare zu „Norwegischer Freiheitssommer

  1. Mit der politischen Situation in den skandinavischen Ländern habe ich mich bis heute zwar noch nicht beschäftigt, diese Lektüre scheint dieses Thema auf recht erfrischende wie nachdenkliche Weise zu behandeln. Keine Ahnung, ob ich dieses Werk in absehbarer Zeit lesen möchte. Allerdings hat deine Rezension meinen Wunsch geweckt, auch mal nach Norwegen oder nach Schweden zu reisen, da ich bisher nur Dänemark besucht habe, wenn es um Skandinavien geht.^^

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    1. Alle skandinavischen Länder sind es meiner Meinung nach definitiv wert, bereist zu werden. Gerade Norwegen hat mit seiner eindrucksvollen Vielfalt von unterschiedlichen Landschaften (mit Fjorden, Hochebenen, Gletschern und und und…) sehr viel zu bieten. Wenn eine Rezension oder ein Buch Interesse an Land und Leuten weckt, finde ich das wunderbar.

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    1. Sehr gerne, Malin. Das Buch fängt aus meiner Sicht den Zeitgeist des Jahres 1968 in Oslo atmosphärisch wirklich großartig ein und passt zudem sehr, sehr gut in den Lesesommer! Toril Brekke schafft es zudem, auch ernste Themen mit viel Takt und Fingerspitzgengefühl zu behandeln. Und der „kleine“ Bruder Morten ist im übrigen auch eine sehr sympathische Figur. 🙂 Viel Freude bei der Lektüre!

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